TEXT: GUIDO FISCHER
Nach mehr als einer halben Stunde erreicht der Prozess des zunächst geheimnisvollen minimalistischen Antastens und Abwägens seinen ohrenbetäubenden Höhepunkt. Als gäbe es kein Morgen, fallen das Berliner »zeitkratzer«-Ensemble und der japanische Experimental-Derwisch Keiji Haino übereinander her. Mit einer einzigen Fortissimo-Scockwelle sorgen sie für einen monströsen Klang-Tsunami. In diesen Minuten möchte man nicht in der Berliner Volksbühne gewesen sein, als dort 2005 die SoundSupernova einschlug. Aber selbst noch über den CD-Player vermittelt sich die radikale Rücksichtslosigkeit, mit der das etwas andere Spezialistenkollektiv für Gegenwartsmusik oftmals zu Werke geht und wenn es seine vorrangig klassischen Instrumente mit elektronischem Equipment kurzschließt für betäubend Lärmendes.
Solche Noise-Konstellationen sind andererseits nur eine Facette im musikalischen Leben und Treiben der »zeitkratzer«. Ist etwa der aufgewirbelte Dezibel-Dampf wieder verflogen, kann schon mal nur ein einziger einsamer Ton im Klangmaschinenraum herumstehen. Als ob durch irgendwelche Ritzen oder Luken leichte Brisen hineinwehten, schwingt dieser Ton wie ein zarter Halm hin und her. Fast zwanzig Minuten dauert das Reiz-Reaktions-Schema, das das Ensemble feinnervig mit zerbrechlichen Obertonspektren umspielt.
»Critical Band« heißt das Stück des amerikanischen Komponisten James Tenney und ist die neueste Entdeckung von zehn Musikern, die sich seit 1997 nichts anderem verschrieben haben, als sich Klängen jeder Art zu widmen. Ob es sich dabei um frei improvisierte oder haarfein fixierte Musik handelt, die Hauptsache ist, dass »wir die Klang- und Geräuschgeschichte durch einen lebendigen Klang, ein lebendiges Geräusch bereichern können«.
Grundlegend neu ist der von »zeitkratzer«-Gründer Reinhold Friedl formulierte Ansatz zwar nicht, arbeitet sich doch von jeher gerade die Jazz-Avantgarde-Szene daran ab. Doch kein anderes Ensemble überwindet dafür zurzeit so selbstverständlich sämtliche Genre- und Szene-Grenzen. Jazz und experimentelle Rockmusik, Neue Musik und aktuelle elektronische Club-Sounds bilden ihr ABC – und oft wird zudem auch Video, Tanz und Bildende Kunst mit einbezogen.
Die von Friedl ausgesuchten Musiker müssen entsprechend reaktionsschnell arbeiten und zudem für alles offen und musikenzyklopädisch gebildet sein. So war bereits ein ehemaliger Berliner Philharmoniker Mitglied. Aktuell gehört der deutsche Klarinettist Frank Gratkowski zur Gruppe oder am Cello Anton Lukoszevieze als Fachmann für zeitgenössische Instrumentalmusik.
Schon von ihrer bunten Besetzung her ist die Berliner Formation ziemlich einzigartig. Ihr wahres Gesicht zeigt sich jedoch, wenn man die Bandbreite der Projekte und Komponisten durchgeht, mit denen sie im Laufe der Jahre gängige Musikklischees weggeschabt hat. Arrivierte Neutöner wie Hans-Joachim Hespos und Helmut Oehring tauchen im Repertoire ebenso auf wie eine brachiale Version von Lou Reeds »Metal Machine Music«; auf folkloristisch scheppernde Dialekte von Bayern bis Bulgarien folgte eine von Friedl komponierte Neufassung von Schönbergs »Pierrot Lunaire«.
Für ihr Kölner Debüt haben sich die »zeitkratzer« nun mit dem Berliner Elektroniker OVAL alias Markus Popp einen Gleichgesinnten geholt, was die Neugier für riesige Klang- und Geräuschwände betrifft. Vorsichtshalber sollte der Besucher daher unbedingt ein Paar Ohrstöpsel in der Tasche haben.
Konzertreihe Tripclubbing: 29. April 2010, Alter Wartesaal; Musiktriennale Köln vom 24. April bis 16. Mai 2010; www.musiktriennale.de