Ständig ereignet sich etwas im Körper: »Man spürt das.« Maria Lassnig bemerkt Längsstriche oder »eine Breite« oder nur Punkte oder Kreise. Und sie weiß: »Es ist unerschöpflich, was noch alles kommen kann.« Selbsterkundung und Körperwahrnehmung, das sind ihre Lebensthemen. Die dreht und wendet die österreichische Künstlerin mit Stift und Pinsel – unentwegt seit sechs Jahrzehnten in hunderten von Selbstporträts.
Erlebt man sie, so verfestigt sich schnell das Bild vom nimmermüden Malerinnenphänomen. Wenn sie Ausstellungseröffnung feiert bis in die Nacht. Wenn sie beim Malen und Zeichnen ihren Gegenstand immer wieder forschend neu fasst. Oder wenn sie vor der Kamera steht: Eine Frau, die aussieht als sei sie sechzig, obwohl sie in ein paar Monaten ihren Neunzigsten feiert.
Sie wird ungern daran erinnert. Doch bleiben ihr die Geburtstagsausstellungen nicht erspart. Wien zeigt die Malerei des letzten Jahrzehnts. Und das Kölner Museum Ludwig ehrt die alte Dame jetzt mit einer Retrospektive der Zeichnungen, die für Lassnig immer wesentlich waren, aber im Schatten der großen, bunten Leinwände gelegentlich übersehen wurden.
Auch Köln schenkt in seinem Überblick den Arbeiten der vergangenen zehn Jahre besondere Aufmerksamkeit. Ausgiebig blättert die Schau im erstaunlichen Alterswerk, das sich auf der Höhe halten kann, weil die Künstlerin nicht müde wird, ihr eines Thema immer wieder etwas anders anzugehen. Seit einiger Zeit machen vor allem die knallbunten Hintergrundfarben Eindruck.
Etwa im Bild eines verformten Gesichts, das aus kräftigem Gelb auftaucht. Wie aus der Dunkelheit oder aus einer glatten Wasserfläche. Teile bleiben verdeckt, doch das Wesentliche kommt zum Vorschein: Kleine Augen, die aus dem Bild heraus ins Leere blicken. Hohe Wangenknochen, eine breite Nase mit übergroßen Löchern, volle Lippen, das hängende Kinn. Dazu feine Linien, die sich gleich gespannten Fäden durch die Physiognomie ziehen. So sieht Lassnig das eigene Ich. Ihr »Selbstportrait im Möglichkeitsspiegel« von 2001 wählt das Museum Ludwig zum Titelblatt der Retrospektive. Wahrscheinlich weil es in mancher Hinsicht bezeichnend ist für Lassnig und ihre Kunst.
Man erkennt die Züge der Künstlerin – und vermutet viel mehr. Zu Recht, denn das Zeichenblatt funktioniert bei ihr nicht wie ein gewöhnlicher Spiegel, Lassnig bleibt in ihren Selbstporträts nie an der Oberfläche. Sie will die eigene Wahrnehmung bannen, will Körpergefühle, Empfindungen einfangen. Was das bedeutet, erklärte sie selbst einmal schlicht aber anschaulich: »Ich zeichne oder male ein Bild in einer bestimmten Körperlage: Zum Beispiel sitzend, aufgestützt auf einen Arm, fühlt man das Schulterblatt, vom Arm selbst nur den oberen Teil, die Handteller, wie die Stützen eines Invalidenstocks. Ich fühle die Druckstellen des Gesäßes auf dem Diwan, den Bauch, weil er gefüllt ist wie ein Sack, der Kopf ist eingesunken in den Pappkarton der Schulterblätter, die Gehirnschale ist nach hinten offen, im Gesicht spüre ich die Nasenöffnungen groß wie die eines Schweins.«
Im von ihr selbst bewohnten »Körpergehäuse« finde sie die realste aller Realitäten. Natürlich sind es mitunter auch Emotionen, die sie antreiben – Furcht, Freude, Trauer. Doch muss man sich kaum in komplexe psychologische Zusammenhänge einsehen. Diese Blätter sind nicht der Platz für Pathos und große Gefühle. Viel eher interessiert hier das Elementare. Auch kleinste Sensationen werden registriert. Lassnig bezeichnet Dellen, Schwellungen, Druckstellen, Dehnungslinien und bedient sich dabei fast ausschließlich ihrer »Urzustandswerkzeuge«: Pinsel und Stift. Wobei das Zeichnen ihr den unbestreitbaren Vorzug der direkten, unkomplizierten Umsetzung jener überaus flüchtigen Gefühle bietet.
Mal zeigt sie ihren Kopf mit »Meditationsöffnungen«, mal erscheint sie doppelt – im männlichen und weiblichen Bildnis. Lassnig zeigt sich mit Netzaugen oder mit zwei Nasen. »Gedankenschärfe« bringt sie in einer fast abstrakten Form zum Ausdruck, verzichtet aber nicht auf die großen Nasenlöcher als Charakteristikum ihrer Selbstsicht. Jedes Blatt ein Sekunden-Protokoll, jedes eine einzige Möglichkeit unter unendlich vielen.
Erstaunlich, dass Lassnig bereits seit den 40er Jahren jene künstlerische Idee verfolgt, die sie selbst mit dem Begriff der »Körpergefühlszeichnung« umschreibt. Die Kölner Ausstellung kann die Entwicklung in mehr als hundert Arbeiten nachvollziehen. Die frühen verraten Lassnigs Auseinandersetzung mit gängigen Strömungen. Die Künstlerin zitiert, reflektiert, persifliert zuweilen auch. Aber sie legt sich niemals fest, aus Prinzip. »Ach, die Künstler, die Gefangene ihres Stils sind, griesgrämig in die Welt sehen und verbissen den grünen Zweig des Supererfolgs wollen«, so notierte sie. »Verwerft den Stil, ändert ihn jede Woche.«
Im »Selbstporträt als Zitrone« von 1949 geht Lassnig mit Gestaltungsweisen von Kubismus und Surrealismus um. Inhaltlich zeichnet sich aber schon hier der Versuch ab, persönliche Gefühle zu verbildlichen. Wenig später dann spielt sie mit dem Informel. Davon legt im Museum Ludwig etwa das »Informelle Knödelselbstporträt« Zeugnis ab. Unüberhörbar wird hier schon jene uneitle Selbstironie, jene Komik, die das Werk bis heute durchzieht und ihm, trotz des eher sperrigen Gegenstands, Leichtigkeit verleiht.
Ende der 50er Jahre scheint Lassnig dann angekommen bei ihrem Realismus eigener Prägung. Die permanente Beschäftigung mit dem eigenen Ich hat sie zu einer einzigartigen Variante figurativer Kunst geführt. In Aquarellen erforscht sie nun Körperfragmente. Auch beginnt Lassnig damit, ihr eigenes Bild in allen möglichen Gegenständen zu spiegeln, so lässt sie sich selbst auf dem Papier etwa mit einem Briefkasten verschmelzen.
Und auch wenn sie sich im Bild einmal nicht zu erkennen gibt, bleibt die Künstlerin ganz dicht bei sich. Denn jedes dargestellte Ding, jede Szene reflektiert die eigene Situation, eigene Empfindungen, eigene Sichtweisen und Visionen. Nicht selten geht es um Mutter, Kind, Familie, auf die Lassnig ihrer Kunst wegen verzichtet habe, wie sie sagt.
Sie blieb allein. Nach Stationen in ihrer Heimat Kärnten, in Wien und Paris begleitet die Schau sie Ende der 60er Jahre nach New York, ins Zentrum der damaligen Kunstwelt. Die Künstlerin lebte dort über zehn Jahre, malte, zeichnete und drehte Trickfilme. Doch der große Erfolg blieb aus. Er zeichnete sich erst seit 1980 ab, als Lassnig als Professorin nach Wien berufen wurde. Venedig-Biennale, documenta und etliche Preise folgten. Dass die Erfolgsgeschichte damit noch nicht am Ende ist, wurde letztes Frühjahr in London klar, als Lassnig in der Serpentine Gallery gastierte und wie ein junger Superstar bejubelt wurde.
In Köln könnte sich mit dem Blick über die Jahrzehnte am Ende des Rundgangs doch auch Kritik regen – ob dieser obsessiven Selbstbespiegelung. Hat sie nicht auch etwas Peinliches, Penetrantes, Selbstverliebtes? Nein, nicht bei Lassnig. Was ihre Kunst ausmacht, brachte sie selbst einmal sehr treffend auf den Punkt: »Selbstdarstellung ist nicht Narzissmus und Liebe zu sich selbst. Sie ist vielmehr Einsamkeit des Kritischen, Unvermögen der Ausbeutung eines anderen, Meditation und Ansetzen eines wissenschaftlichen Skalpells an einem willigen Objekt, dem Selbst.« //
14. März bis 14. Juni 2009. Museum Ludwig, Köln. Tel.: 0221/22126165; www.museum-ludwig.de
Maria Lassnig: Das neunte Jahrzehnt. Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, bis 17. Mai 2009. www.mumok.at