Über 50 Jahre ist es her, dass er als junger Komponist mit Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen eine wilde Avantgarde-Boygroup bildete. Seither gehört Pierre Boulez zu den Leuchttürmen der Neuen Musik. Und als Dirigent ist er ein inspirierender Mann der Tat.K.WEST hat Interpreten, Komponisten und Musikwissenschafter gebeten, drei Fragen zu Boulez zu beantworten:
• Was bedeutet für Sie das Phänomen Boulez?
• Welches seiner Stücke lieben Sie am meisten?
• Welchen Geburtstagswunsch haben Sie für den Meister?
CAROLIN WIDMANN
• Dass er ein Leben lang völlig kompromisslos seine Mission verfolgt hat. Dass er jedes seiner Werke minutiös genau im Kopf hat. Jede noch so kleine Note fällt ihm auf – er hat phantas-tische Ohren. Dass er unermüdlich arbeitet, arbeitet, arbeitet. Als wir in Salzburg probten, waren wir jungen Musiker viel früher erschöpft als er. Ich bewundere, dass er so wenige seiner Werke an die Öffentlichkeit gelassen hat, nur die, die seinen hohen Ansprüchen genügten.
• Ich bin da als Geigerin natürlich sehr subjektiv. Aber »Anthèmes 2« ist eines meiner Lieblingsstücke der Moderne. Wirklich wunderschöne Musik, mit ständig wechselnden Charakteren und der Elektronik als gleichwertigem Kammermusikpartner mit der Violine.
• Ich maße mir nicht an, ihm etwas zu wünschen, weil ich ihn dazu zu wenig kenne. Aber ich wünsche uns und mir, dass es ihn noch lange gibt als unbestechliche Instanz in unserer Musikwelt.
Für die Neue Musik-Violinistin Carolin Widmann haben u. a. Wolfgang Rihm und ihr Bruder Jörg Widmann komponiert.
MICHAEL STEGEMANN
• Das Phänomen Boulez beruht für mich auf dem einzigartigen Spagat zwischen Intellekt und Sinnlichkeit, Vergangenheit und Gegenwart: Wegbereiter und Großmeister der Mo-derne zum einen, maßgeblicher Interpret von Berlioz, Debussy und Ravel zum anderen. Der typisch französische Cartesianismus, bei dem Erkenntnis und Reflexion einem mitreißenden Temperament des Dirigierens und Komponierens nicht im Wege stehen.
• Es sind vor allem die späteren Werke (nach dem »Rituel in memoriam Bruno Maderna«), die mich faszinieren. Ein Stück wie der »Dialogue de l’ombre double« für Klarinette und Live-Elektronik (1985) gehört für mich unbedingt dazu.
• … dass er doch noch seinen langgehegten Plan eines musikdramatischen Werkes realisieren kann.
Der ehemalige Messaien-Student Michael Stegemann ist Professor für Musikwissenschaft sowie Musikschriftsteller.
PHILIPPE MANOURY
• Er ist, wie Debussy, eine komplexe Mischung aus Freiheit und Unbedingtheit. In den 30 Jahren, in denen ich ihm so nah sein durfte, konnte ich erleben, wie reich und komplex seine Persönlichkeit ist. Sein Geschmack ist manchmal unvorhersehbar, überraschend. Und wenn man noch hinzufügt, was für ein einzigartiger Dirigent er ist und welche Fähigkeit er zudem besitzt, Politiker zu überzeugen, hat man eine Annäherung an dieses Phänomen.
• Es hängt von den Entstehungszeiten ab. Aus den Werken der 1980er Jahre ragt »Répons« heraus. Es hatte in seiner Art, wie elektronische Musik in das Orchester integriert wird, immensen Einfluss auf Generationen von Komponisten.
• Ich wünsche ihm, dass das Publikum endlich bemerkt, dass er nicht nur ein Dirigent, sondern vor allem Komponist ist.
Der Franzose Philippe Manoury studierte am Pariser IRCAM. Seine Werke wurden von Boulez u.a. in der New Yorker Carnegie Hall dirigiert.
TEODORO ANZELLOTTI
• Ein Künstler mit vier Leben: Komponist, Dirigent, Denker und Theoretiker, Gründer und Generator für die Neue Musik.
• Da geht es mir ähnlich wie bei Mozart: Das, was man als letztes gehört hat, glaubt man, ist das schönste, was er je komponiert hat. So habe ich vor kurzem »Sur incises« im Konzert erlebt und war fasziniert von der farbigen Virtuosität, der Energie und gleichzeitig von dieser Poesie in den kleinsten Verästelungen.
• Neue Stücke schreiben, und dass er wie sein Freund Elliot Carter immer weiter geht: Gerade im 101. Lebensalter hat Carter ein Stück für ihn zum 85. Geburtstag geschrieben.
Der Akkordeonist Teodoro Anzellotti hat über 300 Werke uraufgeführt, u.a. von Berio, Kagel und Rihm.
THOMAS OESTERDIEKHOFF
• Die Vielseitigkeit als Komponist, Dirigent, Initiator erfolgreicher Institutionen; der Neue Musik-Fixstern Frankreichs.
• »Le marteau sans maître« ist eines der Werke, die für meinen persönlichen Zugang zur Neuen Musik wichtig waren. Dadurch, dass ich es selber spielte, vor über 25 Jahren, habe ich mich sehr eingehend damit befasst und war fasziniert von Ausdruckskraft, Klangfarben und der inneren wie äußeren Architektur.
• Weitere kraftvolle 85 Jahre.
Thomas Oesterdiekhoff ist Geschäftsführer der musikFabrik.
ALEXANDER LIEBREICH
• Wenn Boulez in Frankreich ist, ist er der Machtmensch. Wenn er etwa in Berlin ist, ist er die sensibelste Person, die es gibt. Genau diese Vielschichtigkeit macht Boulez aus. Er schafft es immer wieder, frei zu sein. Die Strikt-heit und Freiheit, die in anderer Weise etwa auch Helmut Lachenmann ausmachen, sowie seine emotionale Kraft kommen da zusammen. Dazu der Zwang zu abstrahieren, Dinge analytisch nach vorn zu bringen und trotzdem immer die Freiheit zu fordern, dass ich meine Kraft in die Sinnlichkeit hineinbringen kann.
• »Dialogue de l’ombre double« ist ein Werk, das mein persönlicher Einstieg auch in das Dirigieren war.
Alexander Liebreich ist Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Münchner Kammerorchester.
BERNHARD WAMBACH
• Die geniale Mischung aus schöpferischem Musiker (Komponist) und Musikvermittler (Dirigent, Pädagoge …) ist seit langem einmalig. Kein Musiker hat so viel für die Musik getan wie er. Ein Phänomen an wildester Phantasie und größter Disziplin.
• Nicht nur eines. Neben allen anderen: 2. Klaviersonate, »Le marteau sans maître«, »Pli selon Pli«, »Rituel« und die Spätwerke »Répons«, »Notations« und »Sur incices«. Was für eine Klangorgie und was für eine unendliche labyrinthische Struktur.
• Natürlich Gesundheit, Gesundheit – und dass er seine 3. Klaviersonate noch vollendet. Das wünsche ich eben auch uns. Danke an ihn!
Bernhard Wambach ist weltweit einer der Spezialisten für zeitgenössische Klaviermusik.
JIMI TENOR
• Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich viel über Boulez weiß. Ich weiß, dass er Frank Zappa dirigiert hat. Und ich kenne natürlich auch das IRCAM.
• »Répons«, weil mir die Idee von einer in Echtzeit produzierten elektronischen Musik gefällt. Wer will schon bei einer Aufführung jemanden sehen, der die Start-Taste beim Kassettenrekorder drückt.
• Eine gute Flasche Rotwein!
Der finnische Sound-Exzentriker Jimi Tenor hat 2006 Boulez’ »Messagesquisse« re-komponiert.
IRVINE ARDITTI
• Boulez hat eine einmalige Stellung, als Dirigent und Komponist. Ein Konzert mit ihm an der Spitze eines Orchesters ist ein erhellendes Erlebnis, egal, ob er klassische, zeitgenössische oder seine eigene Musik dirigiert.
• Vielleicht sein »Livre pour quatour«. Ich erinnere mich an eine Probe mit ihm in London. Der zweite Satz war wegen seiner Geschwindigkeit und des musikalischen Atems schwierig zu spielen, weil es nicht zu dem Metrum zu passen schien. Ich bat ihn, ob er nicht dazu dirigieren könne, damit ich mich auf mein Spiel konzentrieren kann. Er antwortete zwar, dass er darauf eigentlich nicht vorbereitet sei. Aber zwei Minuten später spielten wir mit Maestro Boulez, der uns perfekt durch alles navigierte.
• Lieber Pierre, ich wünsche, dass Du für uns noch lange Musik machst. Hoffentlich wird es sehr lange sein!
Irvine Arditti ist Gründer des englischen Arditti Quartet.
YORK HÖLLER
• In seinem Roman über König Henri IV. bezeichnet Heinrich Mann diesen als einen »Mächtigen des Guten«. Das könnte man auch über Pierre Boulez sagen. Die bedeutende Wirkungsmacht von Boulez ist evident und unstrittig. Sie scheint sich mir nicht nur aus der Vielfalt seiner mit höchster Kompetenz ausgeübten Tätigkeit als Komponist, Dirigent, Organisator und Kunstdenker zu ergeben, sondern auch aus der Unverwechselbarkeit seiner Persönlichkeit, die in ihrer spezifischen Ausstrahlung letztlich unerklärlich bleibt. Diese Wirkungsmacht hat er aber nie ausschließlich für sich selbst genutzt. Während meiner Jahrzehnte langen persönlichen und künstlerischen Bekanntschaft habe ich beobach-ten können, wie sehr er sich für von ihm geschätzte Komponistenkollegen und Interpreten einsetzt. Ohne seine Förderung wären einige meiner bekannteren Werke nicht nur nicht entstanden, sondern auch nicht so kompetent (mehrfach durch ihn selbst) zur Aufführung gebracht worden.
• Ich schätze die meisten Werke von Boulez, ganz besonders aber mag ich das Chorwerk »Soleil des Eaux«, die Mallarmé-Improvisationen aus »Pli selon Pli«, »Sur incises« und »Notations«. Diese Werke sprechen mich in ihrer Mischung aus rhythmischer Vitalität, klanglicher Farbigkeit und formaler Stringenz besonders an.
• Was wünscht man jemandem, der alles erreicht hat, was er vermutlich erreichen wollte? Ich wünsche Pierre, dass er trotzdem noch einige Wünsche haben möge und dass diese dann auch in Erfüllung gehen. Dazu zählt gewiss Gesundheit, Schaffenskraft und -freude, aber vielleicht auch ein bisschen wunschloses Glück.
Der Komponist York Höller arbeitete an dem von Boulez gegründeten Pariser IRCAM-Institut. An der Grand Opéra wurde 1989 Höllers Oper »Der Meister und Margarita« uraufgeführt.
Redaktion: Guido Fischer
13.3. Kölner Philharmonie; www.koelner-philharmonie.de