TEXT: GUIDO FISCHER
Das hatten Cineasten nicht mehr erwartet. Aber zum Glück kann man sich auf den Zufall verlassen. 2008 wurde in einem argentinischen Privatarchiv eine Kopie von Fritz Langs Science-Fiction-Klassiker »Metropolis« im annähernden Originalzustand aufgefunden. Filmhistoriker machten sich an die Rekonstruktion, so dass im Februar 2010 der Stummfilm in seiner fast ursprünglichen Version und Länge präsentiert werden konnte: in Berlin während der Filmfestspiele, wo 83 Jahre zuvor das visionäre Meisterwerk Premiere hatte. Dafür hatte Frank Strobel den Soundtrack von Gottfried Huppertz in mühevoller Kleinarbeit wieder hergestellt – und leitete selbst auch bei der Vorführung das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, so dass sich ein Kreis schloss. Denn bis dahin hatte er bereits an die 150 Mal die Musik zu verschiedenen, teils verstümmelten »Metropolis«-Fassungen dirigiert, darunter zum Teil neu komponiertes Material von Bernd Schultheiß.
»Metropolis« stand auch ganz am Anfang der Laufbahn des heute wohl namhaftesten Filmmusik-Spezialisten. Der 1966 geborene Frank Strobel war 16 Jahre alt, als ein Freund der Familie erzählte, dass das Deutsche Filmmuseum Frankfurt eine »Metropolis«-Kopie samt fragmentarischer Klavierpartitur von Huppertz besitze. Und weil dieser Freund der Direktor des Museums war, durfte der Münchner Frank seine junge Leidenschaft zur Musik und zum Film an einem Stück Weltkulturerbe ausleben.
Strobel richtete eine Fassung für zwei Klaviere ein, passte sie Note für Note dem Zelluloid an und ging nach der erfolgreichen Premiere in seiner Heimatstadt auf eine internationale Tournee. 90 Auftritte hatte er insgesamt mit diesem seinem Gesellenstück, das von Paris bis New York für Furore sorgte. Damals wusste er schon, dass er nichts anderes machen wollte, als Filmmusik-Projekte zu entwickeln und sie aufzuführen.
Mittlerweile ist der Sohn zweier – ebenfalls – Filmenthusiasten und Kinobetreiber im In- und Ausland der erste Ansprechpartner, wenn es um übersehene bzw. vergessene Partituren der Stummfilm-Ära geht. Zudem stellt Strobel mit seinen sinfonischen Filmkonzerten Meister ihres Fachs in den Mittelpunkt, deren orchestrales Cinemascope sogleich bestimmte Szenen im Kopf ablaufen lassen. »Der filmische Zusammenhang, den das Publikum mit der Musik verbindet, wirkt immer mit«, so Strobel.
Diese Bilder auslösende Kraft haben besonders zwei Filmmusik-Granden in kongenialer Zusammenarbeit mit ihren Regisseuren beherrscht, denen Strobel in der Kölner Philharmonie nun mit dem London Symphony Orchestra und dem hr-Sinfonieorchester jeweils ein Konzert widmet. Sie gelten den symbiotischen Künstlerfreundschaften John Williams & Steven Spielberg sowie Bernard Herrmann & Alfred Hitchcock. Da kann einem allein beim Zuhören vor Spannung der Atem stocken. Es ist, als stünde man bei Herrmanns gezackt messerscharfen Violin-Effekten selbst unter dem Duschkopf im Bad des Motelzimmers und würde vergeblich versuchen – wie Janet Leigh in »Psycho« –, die Attacken des eigentlich doch schüchternen Muttersohnes Norman Bates abzuwehren. Oder es schwindelt einen bei den dissonanten Bläsern in »Vertigo«, während »Scottie« James Stewart turmhoch am Abgrund taumelt, um Kim Novak zu retten.
Für ähnliche akustische Schockmomente sorgte auch John Williams, wenn er nicht für »E.T.« musikalisch sentimental himmelan und ins Universelle strebte. Beginnt es im Orchester heftig zu brodeln und rhythmisch zu stampfen, weiß der Kenner, dass der Schwimmer in Spielbergs etwas anderem Tierfilm »Der weiße Hai« bald rot sehen wird.
Für Frank Strobel sind solche Kompositionen mehr als nur perfekte Kunststücke. In seiner mehr als 20-jährigen Tätigkeit als Dirigent machte er die Erfahrung, dass das Publikum selbst auf die atonalsten Klänge begeistert reagiert, wenn sie im Kontext der packenden Filmgeschichte erlebt werden. Würde so etwas im regulären Abo-Konzert als Neue Musik gespielt, wäre der Protest vorprogrammiert. »Das Ohr ist offener beim Film«, stellt Strobel fest: »Das Publikum kann über die Hintertür die Moderne kennen lernen.«
Mit den sinfonischen Filmkonzerten konnte Strobel darüber hinaus Interesse wecken, sich vielleicht auch mal ein rein klassisches Konzert anzuhören. Nachdem er in Frankfurts Alter Oper eine Reihe von Filmmusikkonzerten geleitet hatte, ließ sich ein nennenswerter Zuwachs an vor allem jüngeren Besuchern feststellen.
Obwohl er eine Art Nikolaus Harnoncourt der Filmmusikszene zu nennen wäre, der verblichene Partituren so authentisch wie möglich wiederaufführt, schlägt ihm noch Skepsis entgegen. Den Makel einer für zweitklassig geltenden, nicht ernst zu nehmenden Gattung führt Strobel auch auf den Missbrauch der Filmmusik zurück, die im Dritten Reich mit Pauken und Trompeten zu Propagandazwecken eingesetzt wurde. Folgt man der These, ist es wenig verwunderlich, dass jemand wie Hans Zimmer nach Hollywood gehen musste, um als deutscher Filmkomponist Karriere zu machen. In der heimischen Filmszene war es für Strobel nur Fassbinder, der außerordentliches Gespür für Filmmusik besaß und eng mit dem Komponisten Peer Raaben arbeitete, der den Filmen neben Licht und Ton mit dem Sound eine eigene weitere Kunstebene hinzufügte.
Strobel registriert zwar nachwachsende Talente wie Niki Reiser und Ralf Wengenmeyer. Gleichzeitig beklagt er den lächerlichen Etat, der bei Film- und Fernsehproduktionen für den Soundtrack eingeplant wird. Arbeitslos wird Strobel trotzdem nicht. Neben Aufführungen, auch von Sergej Eisensteins »Generallinie« und Langs »Nibelungen«, wirkt er als Dirigent bei Einspielungen zu Filmmusiken mit, darunter »Die Päpstin« und »Gloomy Sunday«. Außerdem könnte er jederzeit wieder ans Opernpult zurückwechseln, an dem er schon ein Werk des Schönberg-Zeitgenossen Franz Schreker aus der Taufe gehoben hat. Das wird aber noch einige Zeit dauern. Denn mit der von ihm gegründeten »Europäischen FilmPhilharmonie« hat er ein grenzüberschreitendes Netzwerk aufgebaut, mit dem er Großes vorhat. Gemeinsam mit einem Orchesterverbund, dem u.a. die Hamburger Symphoniker und das WDR Rundfunkorchester angehören, bietet Strobel Pakete an, um Film- und Stummfilmmusik entschiedener im Kultur- und Konzertbetrieb zu etablieren. Strobel betont, was ohnehin gilt: »Film ist ohne Musik wie Oper ohne Orchester.«