Interview: Melanie Suchy
// Zeitgenössische Kultur und Kunst aus New York und Indien präsentierte die Bonner Biennale unter Intendant Klaus Weise 2004 und 2006. Für die letzte Ausgabe des Festivals, bei der vom 14. bis 22. Juni darstellende und bildende Kunst, Literatur, Musik und Filme aus der Türkei auf dem Programm stehen, sind Weise und Festivalmanagerin Elena Krüskemper an den Bosporus gereist. Nach Istanbul, wo man zurzeit an der Verwirklichung des Marmaray-Tunnels arbeitet, einer weiteren Verbindung der Kontinente. Nach dessen Fertigstellung 2009 wird der gefühlte Abstand zwischen Europa und Asien dann noch geringer sein. Stellt die Türkei, deren EU-Beitrittswunsch kontrovers diskutiert wird, jedoch tatsächlich eine Brücke zwischen europäischer und asiatischer Tradition dar? Diese und andere Fragen werden im Rahmen der Biennale thematisiert. Vor allem aber bietet das Festival einen Einblick in die Vielfalt türkischer Kunst und Kultur. Im Gespräch über die Lebendigkeit der dortigen Tanzszene zeigten sich Krüskemper und Weise begeistert, so als hätten Schatzsuchende auf einem unbekannten Eiland kostbare Preziosen entdeckt – und natürlich die Insel selbst.
WEISE: An einem Sonntagnachmittag haben wir eine wunderbare Schiffsfahrt gemacht und dabei unglaublich viel vom Bosporus und von der Türkei erfahren können, im wahrsten Sinne des Wortes: Was es wohl früher bedeutete, vom Mittelmeerraum kommend, die Meerenge zu durchschiffen und sich weiter in Richtung Asien zu bewegen. Wir mussten das abbrechen, um eine Tanzprobe anzusehen. In einem uns nicht bekannten Ortsteil von Istanbul fanden wir uns in einem großen Loft wieder. Eine Frau tanzte und spielte mit einer Harfe. Ein Trumm, und dazu der Körper der Tänzerin. Wie eine Python, wie ein Tier, das gewürgt oder verführt werden will. Zärtlich, aber mit einer gewissen Bedrohung, weil man fürchtete, das Instrument kippt um. Man war im Bann dieser beiden Körper. Da war uns klar, dass wir das Stück, »harS«, einladen müssen.
KRÜSKEMPER: Die Choreografin ist Aydın Teker, die Tänzerin Ayşe Orhon. Manchmal passierte minutenlang gar nichts, nur Beobachten. Als wir vor einem Jahr sagten, wir wollen das Stück zeigen, sagten sie: »Wir wissen aber noch nicht, wann es fertig ist.«
K.WEST: Ist diese Ruhe typisch für zeitgenössische Tanzkünstler in Istanbul?
WEISE: »Tepetaklak« (Kopfüber) von Talin Büyükkürkicyan untersucht, was wäre, wenn der Darwinismus sich anders entwickelt hätte und die Menschen als Vierfüßler den Kopf unten halten müssten. Faszinierend! Sich dermaßen zu konzentrieren auf den Körper, ihn fremd und poetisch zu machen, das braucht wahrscheinlich diese große Ruhe.
KRÜSKEMPER: Im Gegensatz dazu gibt es eine Unruhe, räumlich, finanziell, politisch und gesellschaftlich. Aber daran scheinen die Türken gewöhnt zu sein.
WEISE: Wie in New York, eine unglaubliche Geschäftigkeit, Leben rund um die Uhr. Umso wichtiger sind solche Inseln der Konzentration.
K.WEST: Ibrahim Quraishi nennt sein Projekt »My private Himalaya« eine »Living Installation«. Wie still wird es auf dem Himalaya sein?
KRÜSKEMPER: »My private Himalaya« hat schon diverse Häutungen erlebt. Der momentane Status dieser Auftragsarbeit von Ibrahim Quraishi ist: eine musikalische Kombination aus Johann Sebastian Bach, Sufi-Musik und Kompositionen von Norsq. Die türkische Sopranistin Serap Gögüş wird als Hauptdarstellerin Bach singen. Quraishis »5 streams« war eine Rauminstallation mit Bewegung, Video, Live-Musik, und ich habe in Istanbul von ihm »Afraid of I« gesehen, ein Solo für einen Cowboy. Wunderbar! Ein Tänzer stand fast die ganze Zeit lang nackt auf der Bühne und machte amerikanischen Line-dance, in Zeitlupe der Zeitlupe. Das war aber kein Tänzer, sondern ein spanischer Philosophiestudent. Das gibt es in der Türkei häufiger, dass Leute, die aus anderen Zusammenhängen kommen, im Tanz künstlerisch aktiv werden. Quraishi selbst stammt aus Pakistan, hat in New York bei dem Kulturwissenschaftler Edward Said studiert, kommt also von der Philosophie und den Oriental Studies, lebte dann in Frankreich, jetzt in Amsterdam. Er probt im Moment mit einem Portugiesen, mit Türken, Holländern, dem erwähnten Spanier. Ihn interessiert, inwiefern der Transfer der Werte dem Transfer der Güter als Prozess ähnelt. So etwas wie der Flaschenöffner mit dem Kölner-Dom-Motiv, der aus China kommt. Er untersucht die Transportabilität des Islam und des Christentums und die An- und Abwesenheit von Bildern.
K.WEST: Sie zeigen auch noch ein anderes Spektrum der türkischen Tanzlandschaft: die staatlichen Ensembles.
KRÜSKEMPER: Das Staatsballett Istanbul kommt mit »Güldestan« (Rosengarten), 25 Tänzern der Modern Dance-Abteilung und acht Musikern mit elektronisch verstärkten, traditionellen türkischen Instrumenten. Die Musik stammt vom bekanntesten DJ der Türkei, Mercan Dede, der in Kanada wohnt und in Bonn selbst dirigieren wird. Die Choreografin Beyhan Murphy hat jahrelang in London gelebt. Mit ihrem Mann, Peter Murphy von der Rockgruppe Bauhaus, ging sie vor zwölf Jahren in die Türkei zurück. In Ankara leitete sie dann das Modern Dance Turkey, eine Sparte des Staatsballetts. Modern zu tanzen kam erst nicht gut an, aber sie ließ sich nicht beirren. Seit zwei Jahren macht sie nun für das Istanbuler Staatsballett Modern-Choreografien wie »Güldestan«, eine unterhaltsame, farbenprächtige Geschichte.
K.WEST: Haben Sie den Eindruck, dass die Tanz- und Performancekünstler gegen Orientalismus- oder Exotismus-Klischees kämpfen?
WEISE: Bei den Tanzstücken, die ich gesehen habe, hatte ich – anders als
vielleicht im Theater – nie den Eindruck von Folkloristischem oder sogar Regionalem.
KRÜSKEMPER: »Güldestan« wiederum ist eine liebevolle Auseinandersetzung mit der Tradition und der ethnischen Vielfalt der Türkei. Da wird nicht
karikiert, obwohl es eine lustige Teestubenszene mit Schnurrbärten gibt. Man muss nicht so tun, als wollte in der Türkei keiner mehr mit der Tradition zu tun haben.
WEISE: Im Schauspiel haben wir viele Produktionen, die aufs Poetische, auf türkische Dichter zurückgreifen und Texte, die ursprünglich keine Dramen waren. Das Wort »erzählen« hat große Bedeutung, vielleicht wegen des Bilderverbots.
K.WEST: Spielt bei den Tanzthemen das Mann-Frau-Verhältnis eine Rolle? Oder andere Arten von Gesellschaftskritik?
KRÜSKEMPER: TALdans bestehen ja aus einer Frau und einem Mann:
Mustafa Kaplan und Filiz Sızanlı. In »Graf« sind sie im Dialog auf der Bühne, ganz abstrakt – die Assoziation hat freien Raum. »Mehmet Bariş’i seviyor« (Mehmet liebt den Frieden/liebt Bariş) ist ein gesellschafts-
kommentierendes Stück. Der Namensgeber Mehmet Tarhan ist ein Kriegsdienstverweigerer. Er will sich nicht für geisteskrank erklären lassen, was in der Türkei die einzige Möglichkeit für Homosexuelle wäre, zu verweigern. Er sagt: Als schwuler Kurde hab ich in eurer Armee nichts zu suchen, aber ich bin nicht verrückt. Er wird regelmäßig verhaftet und muss vom Souvenirverkauf leben. Es ist kein antitürkisches Stück, sondern kritisiert die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft und die Überwachung. Sie arbeiten mit einer kleinen Handkamera, filmen sich gegenseitig, und sie setzen Püppchen ein. Die gibt es wirklich in Istanbul: mit Babygesicht, in Militäruniformen und mit einer Handgranate unterm Arm. Wenn man aufs Knöpfchen drückt, singen sie Exerzierlieder. Ansonsten kommen die thematisch heißen Eisen eher im Schauspiel vor.
K.WEST: Spielt der Islam in der Tanzszene eine Rolle?
KRÜSKEMPER: Die jungen Leute dieser Künstlerkreise sind streng laizistisch aufgewachsen, in der Mittelschicht, und haben intellektuelle Eltern. Islam ist höchstens etwas, das man kommentieren könnte. Aber das tun sie nicht. Als wollten sie sagen: Das ist doch gar nicht unser Thema.
K.WEST: Waren Sie frei in Ihrer Auswahl?
KRÜSKEMPER: Es gab auch eindringliche Vorschläge, welche Stücke wir aufnehmen, welche wir nicht aufnehmen sollten. Auf der höheren Ebene hörten wir »Das dürft ihr nicht!«, aber auch zu unseren hiesigen Informationsständen kommen Leute und sagen: »Diese Musikgruppe?
Das sind doch keine Türken!«. Andere fragen: »Warum nehmt ihr das Staatstheater?« oder »Warum habt ihr dieses Stück nicht eingeladen?« Die Biennale soll nicht zum Politikum werden. Da muss man sagen: Wir sind deutsche Festivalkuratoren, mehr nicht. Wir haben eine Auswahl getroffen, hauptsächlich nach künstlerischen, finanziellen und räumlichen Kriterien. Wir finden gut, was wir gemacht haben. Wir können nicht so tun, als gäbe es nur das Eine oder das Andere. Das wollen wir auch nicht.
K.WEST: Produzieren die Choreografen bewusst Tanz, der kompatibel ist mit europäischen Festivals? Haben sie auch lokales Publikum?
WEISE: Ich glaube, das ist eine Neiddebatte. Ich kenne keinen Künstler, der nur mit Blick auf den europäischen Markt produziert. Jeder Künstler macht das, was ihn interessiert. Wer zuhause kein Publikum findet, findet auch auf dem Festivalmarkt keins. Auch die Leute vor Ort müssen sich die Frage nach der Kunst stellen. Es ist auch etwas onkelhaft, Leuten zu sagen, was sie verstehen und was sie nicht verstehen, für welches Publikum was geeignet ist und was nicht. Das Publikum kompatibilisiert sich das schon selber.
KRÜSKEMPER: In Indien – nicht in der Türkei – sahen wir Stücke, die wohl wirklich keiner hier verstanden hätte, mit Bezügen zum Hinduismus oder zur Biografie Gandhis. Da fragte man nach Kompatibilität. Aber beim Tanz? Bitte! //