»Dass sie ein Talent habe, Geschichten nahe am Menschen zu fotografieren, wusste Andrea Diefenbach, als sie vor zwei Jahren daran ging, ein Thema für ihre Diplomarbeit an der FH Bielefeld zu finden. Hatte sie sich doch mit drei Kommilitonen im Rahmen ihres Studiums bereits erfolgreich an einer Sozialdokumentation versucht, in der sie Mukoviszidosekranke porträtierte, wovon das Buch »Atemwege« (Kerber-Verlag) zeugt. Also machte sie sich erneut auf die Suche nach einer relevanten Geschichte, um sie mit den Mitteln der Fotografie zu erzählen. Kinderarmut in Deutschland oder das Schicksal von Frauen unter den Maoisten in Nepal kamen in die engere Wahl, doch fündig wurde die 1974 in Wiesbaden geborene Fotografin in der Ukraine, wo sich seit Mitte der 1990er Jahre mit der Drogensucht auch das AIDS-Virus epidemisch ausbreitet: »AIDS in Odessa« lautet der Titel ihrer Arbeit, die mit dem von der Wüstenrot Stiftung und der Fotografischen Sammlung des Museum Folkwang biennal vergebenen Förderpreis für Dokumentarfotografie 2007/2008 ausgezeichnet wurde.
Zwischen 2001 und 2007 haben sich die Neuansteckungen laut Angaben der UNO in der Ukraine mehr als verdoppelt. Offiziell liegt die HIV-Rate bei 1,5 Prozent, realistische Schätzungen gehen von etwa fünf Prozent aus. Selbst wenn man die optimistischen offiziellen Zahlen der Regierung zugrunde legt, gibt es in der Ukraine achtmal mehr Infizierte als in Deutschland, wo doppelt so viele Menschen leben. In Krywyj Rih, einer 600.000 Einwohner-Industrie-Stadt im Süden des Landes, ist die Durchseuchung bei Drogenabhängigen mittlerweile bei 89 Prozent angekommen.
Derartige Zustände würde man in einem europäischen Land kaum vermuten, was Andrea Diefenbach letztendlich auch dazu bewogen hat, die Gesichter hinter den abstrakten Meldungen vom Rande des Wohlstandskontinents zu suchen. Als sie sich in die Ukraine aufmachte, existierte zunächst kaum mehr als die Skizze des Vorhabens. Diefenbach hatte zwar eine Ahnung, was sie fotografieren wollte, nicht aber wen. Von März bis Mai 2006 hielt sie sich in Odessa auf, wo Sergej Eisenstein 1925 mit »Panzerkreuzer Potemkin« einen der berühmtesten Filme der Filmgeschichte drehte. Heute zählt die »Perle des Schwarzen Meeres« zu den epidemischen Zentren eines Landes, dessen Gesundheitssystem zusammen mit der Sowjetunion zusammengebrochen ist. In der Hafenstadt ließ es sich laut Isaak Babel, einem ihrer berühmtesten Söhne, einst »leicht und hell« leben. Davon wissen die HIV-Infizierten, die Diefenbach aufsuchte, nichts. Um sie kennen zu lernen, kontaktierte sie zunächst UNICEF-Hilfsorganisationen vor Ort, damit sie sich dann weiter bis zu jenen Menschen durchfragen konnte, die durch das grobmaschig gespannte Netz internationaler Hilfe hindurchfallen – die Mehrheit der Erkrankten.
Da die Fotografierten nur in Ausnahmefällen Englisch sprachen, machte sich Andrea Diefenbach mit rudimentären Russischkenntnissen, Händen, Füßen und gelegentlich auch einem Dolmetscher verständlich. Auf diese Weise ist im Laufe der Arbeit eine Art von Vertrautheit entstanden, die kaum ausbleiben kann, wenn man – wie im Fall der sterbenskranken Tanja und ihrem Freund Jura – einen Menschen bis zur Grablegung mit der Kamera begleitet. Vielleicht ist es diese Nähe, die Andrea Diefenbach bei aller Intensität die Grenze zum Voyeurismus nie hat überschreiten lassen.
Ihre Bilder handeln auf erschreckend eindringliche Weise von Desolatheit, zugleich aber auch von Menschen, auf die die würdelosen Verhältnisse, in denen sie leben, nicht abgefärbt zu haben scheinen. Eine von ihnen ist die damals 23-jährige Natascha, Mutter zweier Kinder. 2005 wurde ihr eröffnet, dass sie sich mit dem Virus angesteckt hat, vermutlich bei einem Freier. Seit ihrem 21. Lebensjahr spritzt sie Drogen, vor allem Baltushka, eine Mischung aus Tabletten, Essig und Kaliumpermanganat. Während der Schwangerschaft und nach der Geburt ihres ersten Kindes ist sie für kurze Zeit abstinent, hängt aber sehr schnell erneut an der Nadel, auch während der zweiten Schwangerschaft. Aufgrund einer Syphiliserkrankung sind ihre Beine gelähmt, was in der AIDS-Klinik jedoch nicht behandelt werden kann, weil es dort keinen Neurologen gibt, während das städtische Krankenhaus sie wegen ihrer Infektion nicht aufnimmt. Sie lebt in der Einzimmerwohnung einer Großtante ihres Mannes, schläft dort auf einem Lager auf dem Fußboden. Ihre beiden HIV-negativen Kinder sind zu dieser Zeit bereits in einem Waisenhaus untergebracht. Die Bilder von Natascha, die wir hier abdrucken, zeigen sie in dieser Wohnung, während und nach dem Treffen mit ihren Kindern, zu dem Andrea Diefenbach sie begleitet hat. Die Begegnung wurde nach wenigen Minuten vom Waisenhauspersonal beendet.
Während einige der Porträtierten mittlerweile verstorben sind, lebt Natascha, nach Aufenthalten in AIDSund Tuberkulose-Kliniken, außerhalb der Stadt, ihre Kinder wurden von einer in Kiew lebenden Familie adoptiert. //
Im Hatje Cantz Verlag erscheint im Frühjahr 2008 »AIDS in Odessa«, ca. 160 Seiten mit ca. 100 farbigen Abbildungen, 35 Euro