Lächelnd lässt er den Blick schweifen – nicht etwa über die Kunst an den Museumswänden. Thomas Olbricht schaut durch die Fenster in den Garten von Schloss Morsbroich: »Eigentlich könnte ich alles sammeln. Ja, selbst das herab gefallene Herbstlaub.« Auf Briefmarken, Bierdeckel und Blumenvasen hatte er seine Leidenschaft in jungen Jahren gelenkt. Dann häufte er Werke aus diversen Epochen der bildenden und angewandten Kunst an. Olbrichts Kollektion reicht zurück bis in den Manierismus.
Seit den 90ern aber richtet sich die Sammelwut des 1948 im sächsischen Vogtland geborenen Wella-Erben stärker auf Zeitgenössisches.
Dabei ist Olbricht offen für alle möglichen künstlerischen Techniken, hegt eine Vorliebe fürs Figürliche und besonderes Interesse an Themen, die mit dem Menschsein zu tun haben: Leben, Liebe, Sex, Erotik, Angst, Gewalt, Vergänglichkeit. Ohne alle Schranken führt der Weg etwa bis zum lebensgroßen Ekel-Objekt der Künstlerbrüder Jake und Dinos Chapman, das Olbricht unlängst erworben hat. Überall nur Würmer, Fliegen, Käfer, Schnecken, die damit beschäftigt scheinen, teils zerstückelte Knochenmänner von Fleischresten zu befreien.
»Wahrscheinlich ist die von Olbricht eine der aufregendsten Kollektionen zeitgenössischer Kunst überhaupt«, so sieht es Museumsdirektor Gerhard Finckh, der auf Schloss Morsbroich in Leverkusen noch bis Januar einen beachtlichen Ausschnitt aus dem Fundus des Essener Medizin-Professors zeigen kann. »Yes, Yes, Yes, Yes. Differenz und Wiederholung in den Bildern der Sammlung Olbricht« lautet der etwas schwammige Titel der Ausstellung, die den für Olbricht zentralen Bereich der Werkreihen betrachten will und dazu vor allem fotografische Serien vereint.
Da sind etwa August Sanders sachlich dokumentarische Porträtfotos der 20er Jahre und Otto Steinert mit seinen Anfang der 60er Jahre aufgenommenen Nobelpreisträgern – messerscharf scheint jede einzelne ihrer Gesichtsfalten herausgearbeitet. Katharina Bosse sah sich Ende der 90er Jahre mit ihrer Kamera in Räumen um, die man mietet, um ausgefallene erotische Phantasien auszuleben – Fotostudio und Operationssaal sind nachempfunden, Campingplatz oder Klassenzimmer.
Manchmal findet sich das Prinzip der Reihe auch in anderen künstlerischen Techniken verwirklicht. Thomas Schütte etwa bestückt sein »Regal« 1999 mit verschiedenen bunten Keramik-Figuren. Der 1974 geborene Pole Marcin Maciejowski malt Jugendporträts bekannter Künstlergrößen in Serie – von Cézanne bis Beuys, von van Gogh bis Kippenberger. Louise Bourgeois schreibt 16 Mal in dicken Lettern »Yes« aufs Papier und regte damit den Titel der Schau an.
Vor einer Vitrine mit vielen kleinen gemarterten Männern an Bäumen bleibt Olbricht schließlich stehen und erzählt von seiner ersten Begegnung mit den Schöpfern des schauerlichen Szenarios, Jake und Dinos Chapman. Man traf sich im Atelier der Skandalkünstler, die gerade an ihrem Werk »Help« arbeiteten. Olbricht hätte es kaufen können, doch schien ihm der Preis damals wahnsinnig. Er verzichtete – zunächst. Doch zeitigte die erste Begegnung Folgen. Inzwischen gibt es einen ganzen Block von Chapman-Stücken in Olbrichts Kollektion.Es seien Hauptwerke, die immer wieder ausgeliehen würden.
Die Chapmans brachten den Sammler auch dazu, sich näher mit Francisco de Goya zu beschäftigen und dessen berühmte Grafikfolge »Los Desastres de la guerra« zu erwerben. So sei die Idee entstanden, Alte und Neue Kunst in Beziehung zu bringen, erklärt Olbricht. »Das war ganz, ganz wichtig für die Sammlung.« Neben Goya interessiere ihn etwa die Grafik des deutschen Expressionismus. Otto Dix ist mit seiner Mappe »Der Krieg« vertreten.
Ob neu oder alt – Olbricht kauft Kunst, die bewusst oder unbewusst in den Kontext seiner Kollektion passt. Dabei sucht er »querbeet«, in Galerien, Auktionshäusern, in Künstlerateliers oder auf Messen.
Eben ist der Sammler heimgekehrt vom Großeinkauf bei der schicken Londoner Frieze Art Fair. Die Beute war so reich, dass er bei zwei der erworbenen Stücke noch nicht einmal mehr die Namen der Künstler nennen kann. Sie dürften noch weithin unbekannt sein. Denn es ist nicht allein die Sammelleidenschaft, die Olbricht auf seinen Jagdzügen treibt. Der Ehrgeiz, Newcomer zu entdecken spielt mit und hat ihn schon oft belohnt.
Wie macht er das, was zeichnet den erfolgreichen Talentjäger aus? »Erstens braucht man ein super Auge, zweitens ein Team, das die Kontakte hat und überall schaut, wo neue Werke zu finden sind«, sagt der Sammler. »Und es gehört Mut dazu.« Olbricht nimmt stolz jenes dicke Buch in beide Hände, das er die ganze Zeit über mitgeschleppt hat auf dem Rundgang durch seine Ausstellung in Morsbroich. »Most Wanted. The Olbricht Collection«: Der druckfrische Band mit dem fotografisch fixierten Rumpf einer knapp bekleideten jungen Frau auf dem Cover bildet ausgewählte Ankäufe aus den letzten Jahren ab. Olbricht lässt die Seiten am Daumen vorbei gleiten und hält zwischendurch immer wieder an bei Künstlern, die er auftat, bevor die Preise für ihre Werke explodierten.
Dirk Skreber zum Beispiel hat er früh gekauft, und Matthias Weischer war Olbricht schon 2001 aufgefallen. Damals weilte der junge Leipziger Maler als Stipendiat am Kunsthaus Essen. Heute erzielt er Spitzenpreise – für rund 200.000 Pfund kam vor wenigen Wochen eines seiner Bilder bei Christie’s in London unter den Hammer. Bei anderen erwartet Olbricht noch den dicken Durchbruch. »Nehmen wir den amerikanischen Maler Alexis Rockman – den kennt kaum einer.
Mal schauen, wie das in drei Jahren aussieht…«. Manchmal, so räumt Olbricht ein, habe ihn der Spürsinn aber auch im Stich gelassen. »Bei Damien Hirst muss ich blind gewesen sein«. Der britische Künstler sei schwach vertreten, obwohl er mit seinen Memento-mori-Inhalten eines der Kernthemen dieser Kollektion aufgreife.
Beim Blättern durch das Buch der Neuerwerbungen lassen sich leicht weitere Lieblingsthemen des Sammlers ausmachen. Und immer wieder stößt man auf Stücke, die seinen Ruf als Provokateur begründen mögen. Die abgefressenen Skelette der Chapman-Brüder könnten dazu gehören oder Marianna Gartners dornengekrönter Christus mit Tattoos am ganzen Oberkörper, Marcel Dzamas Wasserfarbenbild vom Liebespiel zwischen Frau und Fuchs oder auch der »Mann (liegend, mit steifem Schwanz)« von Gregor Schneider.
Tabus zu brechen, bereite dem Sammler »diebische Freude«, so hieß es kürzlich in einer großen Wochenzeitung. Olbricht stimmt sofort zu, macht allerdings eine Einschränkung. »Die ganze zeitgenössische Kunst gibt sich doch irgendwie provokant, weil sie neu ist, weil sie frisch ist.« Für ihn sei sie schlicht »Lebenselixier«, sagt er – und teilt großzügig aus von seinem Zaubertrank. Wenn die Museen dieser Welt um Leihgaben bitten, antwortet der Mann aus Essen immer wieder gerne mit Ja. So ist Leverkusen bei weitem nicht der einzige Ort, an dem derzeit Kunst aus Olbrichts Fundus gastiert. Er beschickt Museen von Leipzig bis New Jersey. In Helsinki bestückt der Sammler eine Schau, und Essens Folkwang-Museum präsentiert regelmäßig wechselnde Teile der Kollektion – gerade sind Olbrichts Arbeiten von Andreas Slominski an der Reihe.
Solche musealen Auftritte dürften sich günstig auf die Wertentwicklung seiner Schätze auswirken. Aber Olbricht hat natürlich andere Gründe für seine Großzügigkeit. »Ich sammle schließlich nicht nur für mich und für meinen Tresor, sondern auch, um diese Kunst der Allgemeinheit zu zeigen.« Dieser Gedanke bewegte ihn sicherlich auch bei der Entscheidung für die zeitgenössische Kunst. Denn um Jugendstilvasen, afrikanische Idole oder mittelalterliche Madonnen, die er zuvor zusammentrug, hat sich kaum jemand geschert. Erst seitdem er sich vorwiegend auf Gegenwartskunst verlegt hat, steht man Schlange und verschafft dem Sammler dadurch auch Bestätigung – was er offenbar genießt.
Hofierter Kunstsammler – das ist nur eines unter vielen Kapiteln in Olbrichts Werdegang. Beruflich macht er nebenbei Immobiliengeschäfte – irgendwo müsse das Geld schließlich her kommen, bemerkt dazu der fünffache Familienvater. Seine gut gehende Arztpraxis hat der promovierte Chemiker und habilitierte Hormonforscher inzwischen aufgegeben. Sein Fachgebiet, die Endokrinologie, lehrt Olbricht dagegen nach wie vor an der Universität in Essen.
Olbrichts Liebe gehört aber der Kunst und sein Streben richtet sich darauf, sie möglichst vielen Menschen nahe zu bringen. Dafür möchte er nicht länger durch die internationale Museumslandschaft streifen.
Auf Dauer will er seine Sammlung sesshaft machen, will er einen Ort finden, »der über längere Zeiträume größere Einblicke erlaubt«. Zur Wahl stehen Hamburg und Berlin. Auch das Museum Folkwang in Essen käme in Frage. Doch scheint sich Olbricht über den Museumsverein dort zu ärgern, da der die Bedeutung seiner Sammlung noch immer nicht erkannt habe. Man tut sich offenbar schwer mit den zeitgenössischen »Tabubrüchen« aus dem Hause Olbricht.
Der Sammler lässt sich Zeit mit der Orts-Entscheidung. Und malt sich derweil aus, wie die ideale Ausstellung seiner Schätze auszusehen hätte: »Man muss etwas entdecken können, soll nicht dauernd dasselbe sehen.« Mit Spannung und Provokationen will Olbricht die Besucher ins Museum locken. »Ich muss da sitzen können und essen, möglichst in der Kunst. Ich muss Feste feiern können in ihr, muss immer ganz dicht dran sein können an der Kunst.«
Die Ausstellungen: »Yes, Yes, Yes, Yes. Differenz und Wiederholung in den Bildern der Sammlung Olbricht«; Museum Morsbroich, Leverkusen; bis 15. Januar 2006. Tel.: 02 14/8 55 56-0. www.museum-morsbroich.de
»Andreas Slominski. Moving energies #6 – Aspekte der Sammlung Olbricht«; Museum Folkwang, Essen; bis 5. Februar 2006. Tel.: 0201/88-45314. www.museum-folkwang.de
Das Buch: »Most Wanted. The Olbricht Collection«; Herausgegeben von Wolfgang Schoppmann und Axel Heil; erschienen im Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln (266 Seiten; 58 Euro).