TEXT: ANDREAS WILINK
Im März 1995 gelobten sich die dänischen Regisseure Lars von Trier und Thomas Vinterberg, im Namen auch einiger Kollegen, Keuschheit. Die verordnete Reinigungskur ging als »Dogma 95« in die Filmgeschichte ein. Eine Zeitlang wurden deren Regeln (Originalschauplätze, Handkamera, direkter Ton etc.) bis zum Parodistischen befolgte, um sie dann wieder zu entkräften, wie die Protagonisten selbst es taten, voran der pathetische Bildzauberer Lars von Trier. In Dortmund macht sich Schauspielchef Kay Voges das Postulat zu eigen und widmet es um in ein – ob ernstgemeintes, hybrides oder spaßes- und publicityhalber proklamiertes – Theater-Manifest, von dem man hoffen kann, dass es um seine Zukunft so bestellt sein wird wie bei dem Vorbild.
Wobei »Dogma 2013« das Original noch um zwei Gebote überbietet. Es sind nun zwölf Regeln, deren wesentliche lautet, dass Bildmaterial nicht vorproduziert, sondern im Theater während der Vorstellung gefilmt wird. Voges probiert die Methode passenderweise an Vinterbergs »Fest« aus, einem Familientreffen, in dessen Verlauf Sohn Christian ein Missbrauchs- und Inzest-Verbrechen aufdeckt. Aber was nach einem Prolog, von dem man nicht recht weiß, ob er naiv oder ironisch gemeint ist und der das Überleben des Films im Theater ausruft, auf der Bühne bzw. auf und hinter der halbtransparenten Gazeleinwand stattfindet, ist von schlichter Einfalt. Viel Überschwang in einem stilistischen Kunterbunt (eine Wiederholungsschwäche des Regie-Intendanten Voges), spontihaft lustig und von rührender Halbprofessionalität. Alles bewegt sich ständig, vor allem die Kamera, die für die Projektionsfläche vorn Großaufnahmen produziert, während die Figuren auf der tieferen Bühnenebene parallel schemenhaft erkennbar agieren. Katie Mitchell eindimensional. Gleichwohl bleibt das Ensemble steif und unbeholfen und ist Vinterbergs auf unseren Bühnen oft gespieltem, packendem Plot keineswegs gewachsen und befeuert das Missverständnis aus »Authentizitätsbegehren und Fiktionalitätsbewusstsein« (Ernst Osterkamp).
HAUPTMANNS MILLJÖH
Frontstellung vor dem Eisernen Vorhang, offensiv und massiv unterstützt von dröhnendem Punk. Die Formation des Ensembles bereitet die Attacke vor gegen die Unversehrtheit des Dramas – Gerhart Hauptmanns »Die Ratten«, eine seiner wuchtigen Anklageschriften gegen den Wilhelminischen Staat in Kunst und Sozialwesen. Zehn Personen, eine davon im Rattenkostüm, lassen sich mittels Pfeilen zuordnen, die jeweils von den über der gereihten Gruppe angebrachten Stück-Namen auf die Köpfe ihrer Darsteller weisen.
Die Merker sind so etwas wie der ausgestreckte Zeigefinger des Regisseurs, mit dem Lukas Langhoff gern fuchtelt. Hauptmanns Milljöh ist jetzt und hier in den Godesberger Kammerspielen des Theaters Bonn zur »Szene« aufgemöbelt: Punk-Szene, Prekariats-Szene, Ausländer-Szene, Gay-Szene, Volksbühne-Szene nach Castorf’scher Konstruktionsformel. Viel mehr Konzept, als einen vermeintlich abgelebten Naturalismus zur Gegenwart aufzumöbeln und dabei drastisch zu verknappen, ist nicht. Und mehr muss man darüber auch nicht sagen, außer, dass Lukas Langhoff im vergangenen Jahr mit seinem Ibsen-»Volksfeind« aus Bonn in Berlin zum Theatertreffen eingeladen worden war. Irrtum nicht ausgeschlossen.
PEER AUS SCHWEDEN
Bleiben wir bei Ibsen und überhaupt in Skandinavien. Die Bühne: ein Ausstellungsraum. Großformatige Fotografien hängen an variablen Wänden, in Schwarzweiß. Oder eher mit Grauschimmer – wie der Galeriesaal selbst und das darin hantierende Museumspersonal. An den Bildwerken entlang schlendert im Norwegerpullover ein Mann mittlerer Jahre. Bald gefolgt von einer schwarz gewandeten Frau. Unvermutet beginnt ihr Dialog mit dem Satz »Peer, du lügst«. Wir sind im Stück und treffen auf Mutter und Sohn.
Staffan Valdemar Holm aus Schweden, bis vor kurzem Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses, hat anders als in seinen vorangegangenen Inszenierungen am Gründgens-Platz, »Hamlet« und »Richard III,« für »Peer Gynt« einen Hauptdarsteller, der den Namen verdient: Olaf Johannessen, einen akzentfrei, blendend Deutsch sprechenden Dänen. Aber weshalb schickt sein Regisseur ihn in ein Bilder-Museum, das in Reproduktionen von Mensch-, Tier- und Naturaufnahmen, von gegenständlicher und abstrakter Fotografie einen historischen Überblick von 1855 bis 2013 gibt? Soll es Sinnbild von Peers Ideengebäude, seiner Hirngespinste sein. Projektionsfläche seiner Erlebnisse? Oder hat sich Natur zu Kultur gewandelt?
Es bleibt bei der formalen, grafisch minimalistischen Lösung, die sich als Konzept inhaltlich nicht füllt und das Stück adrett und mit folkloristischer Note nacherzählt. Das Zusammentreffen der ästhetischen Fotografie-Kollektion mit der Narration des 19. Jahrhunderts, in die sich Edvard Griegs Musik verströmt, könnte Reibung erzeugen, das Fremde der Peer-Figur und ihrer Suche erfahrbar machen oder aus komplexen Zusammenhängen zurückschauen auf einfachere allegorische Verhältnisse, die alle übrigen, Peers Weg kreuzenden Figuren wie Gestalten auf August-Sander-Fotografien erscheinen lassen. Es gibt mit Peer einen Mittelpunkt, aber wenig Welt um ihn her. Und es gibt keine Erlösung für ihn. Solvejgs emanzipiert sich und löst sich von ihm. Allein, die Befreiung kommt zu spät. Auch für die Aufführung.
WER IST FRAU MÜLLERT?
Kein Wartesaal, sondern eine Bauruine mit Sperrmüll-Dekor; in Front ein Kellerrechteck, der frisch gestrichen wird, erst zur Hälfte gefliest ist und als »Erfrischungsraum« dienen soll. Vorn legt sich ein dicker Mann in Polizeiuniform zu Boden (Otto: »Es gefällt mir unten«), eine Frau in Kittel und Sandalen nimmt Platz auf einem Drehstuhl, ein junger Mensch zieht akkurat Anstreich-Bahnen. So lernen wir Familie Müllert kennen, die irgendein Geheimnis haben, das sie mit einigen weiteren Personen teilt. Und das nicht weiter interessiert. Das Tempo – nahe bei Null. Der Text, ordentlich gesetzt und vorgetragen, würde höchstens zehn Seiten und zwanzig Minuten Spielzeit beanspruchen.
In Kölns Schauspielhalle Kalk dauert es 75 Minuten. Die Sätze laufen um, so dass etwa ein »Nicht« von einer Zeile in die nächste rutscht und von dem einen zu jemand anderem wandert und dabei seinen Sinn verkehrt. Eine Art getakteter Prosa-Wechselgesang. Beispiele: »Das darf man bei uns / nicht« oder »Wir stoßen auf den Fundort / an«. Das mag virtuos sein, wirkt aber kindisch, zumal in der Überstilisierung, die Anna Viebrock der »Gabe/Gift« des Dramatikers Händl Klaus zumutet. Dazu fiept Jazziges und anders Getöntes, die Klarinette variiert schon mal Tatütata. Worum geht es? Um Familie als Nest oder Keimzelle des Schreckens – oder auch nicht; um die Polizei als Freund und Helfer – oder auch nicht; um das Haus als Heim oder Hölle – oder auch nicht; um ein Spiel mit Krimi- und Thriller-Elementen – oder auch nicht; um eine Schatzsuche – oder auch nicht. Das Stückchen will unheimlich wirken, ist aber unheimlich blöd. Die Regisseurin tut kund, sie hätte sich auch inspirieren lassen von Gregor Schneiders »Haus u r« in Mönchengladbach-Rheydt. Das musste erst einmal gesagt werden (im Programmheft). So eingesetzt, benutzt und trivialisiert das Theater andere Kunstgattungen, von Dortmund über Düsseldorf bis Köln – und Bochum.
DAUERBESCHUSS BIS ZUM ÜBERDRUSS
Er hält es im Kopf nicht aus. Die Bücher, die auf die Bühne herab regnen und später aus Ophelias Grab hochgeschleudert werden, haben ihm den Rest gegeben. Die Stimmen, die wohl in ihm toben (oder als Sportsgeist in weißer Fechter-Montur auftreten und mit ihm einen Robot-Rap ausführen), muss er aus sich heraus lachen. Da kann Hamlet in Kapuzenjacke und Springerstiefeln nur noch maschinenhaft in Heiner Müller-Zungen reden und mühsam die Buchstabenfolge im Namen Horatio zusammenbringen. Jan Klata setzt im Schauspielhaus Bochum, wo einst Zadek und Steckel »Hamlet« inszenierten, Shakespeares Drama unter Dauerbeschuss seiner Einfälle, die ihm so wert scheinen, dass er sie bis zum Überdruss wiederholt und immer noch eins draufgibt.
Einer davon ist, die Bühne als Ballettstudio einzurichten, mit Übungsstange, an der Ophelia (mit »Lola rennt«-gefärbtem Karotten-Haar) »Spitze« ist und an die sie im Sado-Maso-Ritus gefesselt wird, und mit einer Spiegelwand, vor der Claudius und Gertrud Ovationen der Dänen entgegennehmen. Ein anderer Einfall: Polonius als Trainer mit Trillerpfeife die Seinen drillen zu lassen. Oder der, Hamlet und Gertrud (eine hirnlose Soubrette) unter einer Plastikplane zu Unanständigem zu animieren. Oder der: Laertes und Hamlet schattenboxend und virtuoser als Geiger David Garrett ins Duell zu hetzen mit Vivaldi. Der wirkungsvollste aber ist: die gestrichenen Schauspielerszenen von Rosenkranz und Güldenstern als zwei Comedy-Clowns, die auch die Totengräber verulken, hinwitzeln und sie »Die Mausefalle« als Disco-Bach-Messe und versaute Body-Art-Performance ausarten zu lassen.
Man will das Sammelsurium nicht im Einzelnen referieren, das Lärmen irgendwelcher Songs, die Reich-Ranicki-Parodie, das Zitieren von Platen, Erich Fried und Rilke, das Kneten des wabbeligen Rosenkranz-Bauchs, um das »Meisterwerk Mensch« zu verhöhnen, die alle auf eines hinauslaufen: Hamlet haben die Worte verrückt gemacht. Zu viel Text. Zu viele Gedanken, was in einem Extra-Schlusskommentar an Hamlets Leiche noch von einem Vertreter zupackender Realpolitik auf Polnisch (!) bekräftigt wird. Für diese schmale Einsicht braucht Dalida in ihrem Chanson »Paroles, Paroles« vier Minuten und vier Sekunden, Jan Klata hingegen mehr als dreieinhalb Stunden. Das Beklagenswerteste an dieser wild aufgedrehten Veranstaltung, die sich stets einen faulen Ausweg lässt, indem sie die Selbstkritik an dem, was sie gerade inszenatorisch produziert, einbringt und ironisch zu reflektieren vorgibt, ist die vergeudete Qualität von Dimitrij Schaad. Es ist schade um den Prinzen und um seinen Darsteller. Es ist überhaupt schade.
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