Interview: Andrej Klahn
Ingo Schulze, 1962 in Dresden geboren, arbeitete als Dramaturg am Landestheater Altenburg und engagierte sich in der Bürgerbewegung Neues Forum, als sich die DDR auflöste. Im letzten Jahr erschien der lang erwartete Briefroman »Neue Leben«, in dem Schulze die Monate vor und nach dem Mauerfall schildert. Die literarische Republik war überwiegend begeistert, wenn nicht euphorisch, bescheinigte ihm, ein fast 800 Seiten starkes Stück »Weltliteratur« geschrieben zu haben, »eine Wahnsinnstat« oder ein »alchemistisches Wunderwerk«. Seit seinem Roman »Simple Storys« (1998), angesiedelt in der ostdeutschen Provinz unmittelbar nach dem politischen Zeitenwechsel, gilt Schulze als Schriftsteller, der kraft seiner stilistischen Flexibilität und erzählerischen Intelligenz wie kaum ein anderer deutsch-deutsche Realitäten festzuhalten versteht. »In den Spiegelkabinetten seiner Bücher, in denen die Klassengegensätze die Modernisierung der Marktgesellschaft ebenso überleben wie den Zusammenbruch des Sozialismus, kann unsere Gegenwart sich selbst begegnen«, heißt es in der Jury-Begründung des Peter- Weiss-Preises der Stadt Bochum 2006, der Ingo Schulze am 11. November verliehen wird.
K.WEST: Können Sie sich noch an Ihre erste Reaktion erinnern auf die Nachricht, die Mauer sei geöffnet worden?
SCHULZE: Ich dachte: »Schön, aber wer kommt jetzt am Sonntag zu unserer Demo.« Das ist natürlich vollkommen absurd. Doch damals hatte ich die Befürchtung, dass die Regierung nur Luft ablassen will, um dem Veränderungsdruck entgegen zu wirken. Denn dass die Mauer fallen musste, war sowieso klar. Die Beiläufigkeit, mit der es dann geschah, hat mich überrascht. Und ich habe damals überhaupt nicht verstanden, was das wirklich bedeutet, was das für Konsequenzen haben wird.
K.WEST: In »Neue Leben« träumt der junge Enrico Türmer – Hauptfigur des Romans – davon, ein regimekritischer Schriftsteller zu sein. Mit dem Systemwechsel kommt ihm die Motivation seines Schreibens abhanden. Sahen auch Sie die Kunst mit dem Mauerfall in einer Legitimationskrise?
SCHULZE: Nicht unbedingt in einer Legitimationskrise. Denn der Wunsch, eines Tages zu schreiben, bestand für mich nach wie vor auch in der Zeit des Umbruchs. Allerdings hatten sich meine Interessen regelrecht verkehrt: Vorher hatte ich nie Zeitung gelesen, schaute selten fern und wenn, dann Westprogramme. Plötzlich wurde ich Mitbegründer einer Zeitung und alles war interessanter als das Theater, an dem ich damals arbeitete. K.WEST: War ihnen Schreiben nur politisch denkbar?
SCHULZE: Für mich und meinen Freundeskreis war entscheidend, aus dem Ja-Nein-Schema auszubrechen. Wir wollten weg von dissidentischen Positionen, wie sie Biermann oder Solschenizyn verkörperten, die ließen sich noch viel zu sehr auf das Bestehende ein. Unser Versuch war aber letztlich illusionär, solange man nicht aus der DDR rauskam. Verstanden habe ich das aber erst später.
K.WEST: Hat die Literatur nach der Vereinigung an Relevanz eingebüßt?
SCHULZE: Rückblickend scheint mir die Zeit bis 1989 durch eine unglaubliche Hochschätzung des Wortes gekennzeichnet zu sein. Jede Äußerung konnte der Systemkonkurrenz zugeordnet werden und ein paar Zeilen einen ganzen Staat erschüttern. Das war natürlich eine große Versuchung; es gab Schriftstellern das Gefühl, etwas enorm Wichtiges zu machen. Letztlich aber war es die Befreiung von Kunst und Literatur von vielen »mutigen« Vordergründigkeiten. Literatur, und da spreche ich als Leser, hat natürlich für den Einzelnen immer Bedeutung.
K.WEST: Und in den 1990er Jahren hat sich der Stellenwert des Wortes dann verändert?
SCHULZE: Zweifellos ist der Umbruch 1989/90 auch ein Wechsel von einer Welt, in der die Worte die Zahlen verdeckt haben, zu einer Welt, in der die Zahlen die Worte verdecken. Nach 1990 gab es ja scheinbar, ich sage nachdrücklich: scheinbar, keinen Diskussionsbedarf mehr, weil man alternativlos in der besten aller Welten lebte. Das hat eine enorme Bedeutungseinbuße für die Intellektuellen zur Folge gehabt. Ich glaube auch, dass es nach 1989 schwerer geworden ist, Grenzen zu formulieren, Interessenskonflikte zu benennen. Man wagt ja kaum noch von »Schichten« zu sprechen. Grundsätzliche Fragen werden nicht mehr gestellt, wie etwa die, ob das Streben nach Maximalprofit nicht im Gegensatz zum Allgemeinwohl steht. Darüber wird viel zu wenig diskutiert.
K.WEST: Was hat der Westen in Ihrem Kopf nach 1990 bewirkt?
SCHULZE: Die Teilung versorgte einen immer mit guten Argumenten, warum bestimmte Dinge – eine misslungene Ehe oder ein ungeschriebenes Buch – nicht geändert oder bewältigt werden konnten. Die Mauer war an allem schuld. Dieses Alibi fiel plötzlich weg. Andererseits gab es aber auch eine Entzauberung der Welt, ohne dass ich davon enttäuscht gewesen wäre. Es ist gut, wenn eine Sache real wird und nicht nur im Traum existiert. Allerdings sehe ich immer mehr die Gefahr, dass der Westen verschwindet. Manchmal habe ich die Vermutung, dass das menschliche Antlitz des Kapitalismus in Westeuropa dem real existierenden Sozialismus zu verdanken war.
K.WEST: Enrico Türmer hat schon unmittelbar nach dem Fall der Mauer ein sehr feines Gespür für die kommenden Veränderungen. War Ihnen das 1989 auch schon so bewusst?
SCHULZE: Nein, keinesfalls in diesem Maße. Dennoch war ich deprimiert von der sträflichen Naivität vieler meiner Landsleute, die an Kohl glaubten wie an den Weihnachtsmann. Das war ein Schock. Mir lag Ökonomie zu dieser Zeit sehr fern. Doch vorausgesetzt, man wollte es wissen, hätte jeder die einfache Überlegung anstellen können, dass die ehemaligen DDR-Betriebe die Einführung der DM kaum überstehen werden. Letztlich ist der Osten ein staatlich subventionierter Absatzmarkt geworden ohne die sonst übliche leidige Konkurrenz. Allerdings sollte man auch anmerken, dass andere östliche Staaten diesen Systemwechsel längst nicht so luxuriös vollzogen haben wie Ostdeutschland.
K.WEST: Was in den 1990er Jahren in der ehemaligen DDR passiert ist, wird gern als »Monopoly im Osten« beschrieben. In »Neue Leben« bezeichnet Clemens von Barrista, der teuflische Agent des Wirtschaftsliberalismus, dieses Spiel als »fad«. Viel lieber spielt er Roulette. Was macht dieses Spiel so attraktiv als Modell für den Ausverkauf des Ostens?
SCHULZE: Beim Monopoly kann jeder, der ein bisschen gewitzt ist und Würfelglück hat, ein paar Hotels auf die Parkstraße bauen. Beim Roulette bestimmt die vor Spielbeginn schon vorhandene Geldmenge die Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit in hohem Maße auf meiner Seite zu haben. Ich muss ja, wenn ich verliere, immer nur den Einsatz verdoppeln. Wer wenig Geld hat, fliegt schnell raus.
K.WEST: Sie selbst haben wie Enrico Türmer im Herbst 1989 eine Zeitung, das Altenburger Wochenblatt, begründet. Wie kam es dazu?
SCHULZE: Sie ist aus der Arbeitsgruppe Medien im Neuen Forum Altenburg hervorgegangen. Die erste Veröffentlichung mussten wir noch der Kulturabteilung des Rates des Kreises vorlegen, der uns einen Stempel gab, dass es nichts Neonazistisches ist. Daraus entstand dann das Wochenblatt, in dem ich ursprünglich nur schreiben wollte. Plötzlich sah ich mich gezwungen, fünfzig Prozent zu übernehmen. Relativ schnell knallte uns jemand einen Werbeauftrag von 20.000 Westmark auf den Tisch. Umgetauscht wären das etwa 140.000 Mark gewesen – ich verdiente damals monatlich 700 Mark. Plötzlich spielte Geld eine völlig neue Rolle.
K.WEST: Und dann haben Sie, wie Türmer, ein Anzeigenblatt aufgebaut?
SCHULZE: Wir dachten, es könnte ein zweites Standbein sein. Nach anderthalb Jahren haben wir nur noch das Anzeigenblatt gemacht, in der Annahme, wir könnten darin die wichtigen Artikel drucken und so statt 8000 gleich 120.000 Leser erreichen, ohne uns aufreiben zu müssen. Das war natürlich Unsinn, denn zu einem Anzeigenblatt kommt niemand, um seine Geschichte zu erzählen.
K.WEST: Warum sind Sie letztendlich ausgestiegen?
SCHULZE: Der wöchentliche Konkurrenz- und Überlebenskampf wurde immer härter. Ich bin mit Herzschmerzen in die Redaktion gegangen, wusste nicht, ob wir schon pleite sind oder demnächst pleite gehen. Ich wollte einfach nicht mehr alle Kraft dafür verpulvern, ein Anzeigenblatt über Wasser zu halten. Mein Traum war damals, die anderen behalten ihre Arbeit, nur ich werde arbeitslos, denn andere zu entlassen oder zu sagen, ich bin bankrott, ist das Schlimmste.
K.WEST: So haben Sie gleich nach dem Systemwechsel ihre kapitalistischen Lehrjahre hinter sich gebracht?
SCHULZE: Ich dachte immer, wenn die Sache mit dem Altenburger Anzeigenblatt schief geht, bin ich für mein Leben ruiniert. Darin zeigt sich natürlich meine damalige Ungeübtheit im Umgang mit solchen Dingen. Ich hatte keine Ahnung von Betriebswirtschaft. Wir wussten tatsächlich nicht, was »cash« bedeutet oder was eine Mehrwertsteuer ist. Und Zeitung hatte ich zuvor ja nicht mal gelesen – oder nur die Sportseite.
K.WEST: War diese Zeit nur ein Aufschub der literarischen Laufbahn?
SCHULZE: Sowohl der Umbruch 1989/90, mein Engagement im Neuen Forum, genauso wie diese Arbeitserfahrung sind sehr grundlegend gewesen für mich. Es mag banal klingen, aber vorher kreiste immer alles um mich selbst, und plötzlich war ich frei, nach außen zu schauen. Das war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
K.WEST: Schreibende, so haben Sie mal gesagt, ziehen aus dem miesesten Streit und der prekärsten Situation Anregung und Nutzen…
SCHULZE: … wobei ich die Annahme, dass man leiden muss um zu schaffen, für höchst fragwürdig halte. Natürlich zeigt sich die Sonne in der Literatur meist durch die Schatten, die die Dinge werfen. Zukunftseuphorie herrscht, ob nun in den »Buddenbrooks« oder in »Berlin Alexanderplatz«, nicht gerade.
K.WEST: Das klingt nun aber doch ein bisschen nach einer Poetik aus Leidensdruck?
SCHULZE: Nein. Ich denke eher, dass erst in dem Moment etwas entstehen kann, wenn etwas schief läuft, wenn etwas Unerwartetes eintritt. Alltagsgeschichten entstehen doch meist auch aus Unfällen, wenn mir oder anderen etwas zustößt. Literatur braucht Auslöser.
K.WEST: Belastet es Sie, dass Ihnen das Etikett eines Spezialisten für ostdeutsche Befindlichkeiten anhaftet, dass Sie als Verfasser des Wenderomans schlechthin gelten?
SCHULZE: Es ist eine Einschränkung. Aber ich bin nun mal in Ostdeutschland groß geworden und komme an diesem Thema nicht vorbei. Am Anfang hat mich die Bezeichnung »Wenderoman « gar nicht so gestört, mittlerweile ist sie wie ein Fluch. Abgesehen davon, dass Egon Krenz den Begriff Wende geprägt hat, wehre ich mich deshalb dagegen, weil immer unterstellt wird – auch in den Kritiken –, dass diese Zeit abgeschlossen ist und wir jetzt andere Probleme haben. Für mich wird die Zäsur 1989/90 immer wichtiger, weil seitdem bestimmte Entwicklungen sich radikal beschleunigt oder eine andere Qualität bekommen haben. Nehmen Sie nur das schon erwähnte Verschwinden der Wörter hinter den Zahlen.
K.WEST: Halten Sie es für zwingend, dass der deutsche Gegenwartsroman von einem ostdeutschen Schriftsteller geschrieben werden muss?
SCHULZE: Überhaupt nicht. Mich würde nichts mehr interessieren, als diese Zeit aus westlicher Sicht geschildert zu bekommen. Bemerkenswert ist doch, dass seit 1989/90 auch der Westen verschwindet, Jahr um Jahr erodiert. Ich kann das nicht beschreiben, weil mir die Vorgeschichte dazu fehlt.
K.WEST: Am Ende Ihrer Laudatio auf Jury Andruchowytsch geben Sie den Zuhörern mit auf den Weg, dass es womöglich etwas bedeutet, wenn man nicht mehr vom Westen, sondern vom Osten träumt. Was könnte es denn bedeuten?
SCHULZE: Die Welt ist nicht mehr so polarisiert, sie hat ganz verschiedene Kraftzentren. Natürlich werden New York, London, Paris oder Berlin in nächster Zeit solche Zentren bleiben. Aber im Osten entstehen im Guten wie im Bösen sehr interessante Orte. In Lemberg gibt es nur morgens und abends Wasser von jeweils sechs bis neun Uhr. Das ist ein guter Grund, um da nicht wohnen zu wollen. Andererseits existiert dort unter den Schriftstellerkollegen ein unglaublicher Zusammenhalt und ein ganz anderer, großzügigerer Umgang mit Zeit. Man trifft dort auf eine besondere Geselligkeit und Unabgeschlossenheit. Osten und Westen werden vergleichbarer. Ich lächelte immer über den sächsischen Dialekt, aber seit ich den schwäbischen gehört habe, finde ich das Sächsische gar nicht mehr komisch.