Wer die Jugend hat, hat die Zukunft. So hieß es einmal. Wenn der Umkehrschluss auch richtig ist, dann steht es um viele Sparten der sogenannten ernsten Kultur nicht zum Besten. Insbesondere der Konzertbetrieb verzeichnet einen auffallenden Rückgang jugendlicher Besucher; und das nicht allein aus demografischen Gründen. Auch Opernhäuser und Theater haben immer größere Schwierigkeiten, ihr Nachwuchspublikum zu erreichen. Deshalb ist man dort zunehmend bestrebt, Berührungsängste abzubauen: durch populäre Veranstaltungen genauso wie durch »aufsuchende« Kulturarbeit. Andrej Klahn sprach mit der stellvertretenden Leiterin des Bonner Zentrums für Kulturforschung und Herausgeberin des ersten »JugendKulturbarometer«, Susanne Keuchel, über das Kultur-Publikum der Zukunft.
K.WEST: Früher konnte man davon ausgehen, dass mit zunehmendem Alter der Jugendlichen eine Rückbesinnung auf die klassische Kultur erfolgt. Ist das heute noch so?
KEUCHEL: Es zeichnet sich ab, dass das in Zukunft nicht mehr so sein wird. Wir befragen seit 30 Jahren in regelmäßigen Abständen Menschen zur Nutzung von kulturellen Einrichtungen. Auf der Grundlage dieser Zahlen lässt sich für einzelne Spartenbereiche feststellen, dass systematisch die mittleren Bevölkerungsgruppen als Kultur-Nutzer wegbrechen. Wir wissen über das »Jugend-KulturBarometer«, dass Eltern das kulturelle Verhalten ihrer Kinder sehr stark prägen. Wenn die nun beispielsweise keine klassische Musik mehr hören, sind ihre Kinder aller Wahrscheinlichkeit nach auch nur sehr schwer für diese Kunst zu gewinnen. Es ist also anzunehmen, dass sich dieser Trend verstärken wird.
K.WEST: Über kurz oder lang werden viele Kultureinrichtungen also ein Problem mit dem Publikumsnachwuchs haben?
KEUCHEL: Nicht alle Sparten. Einbrüche gibt es im Bereich Musiktheater und Klassik, auch das Theater hat Schwierigkeiten. Größerer Beliebtheit hingegen erfreut sich der zeitgenössische Ausstellungs- und Museumsbereich. Hier scheint sich die verhältnismäßig weit entwickelte Museumspädagogik, die bei uns eine längere Tradition hat, bemerkbar zu machen.
K.WEST: Ist die größere Akzeptanz von Ausstellungen denn nur auf die museumspädagogischen Angebote zurückzuführen?
KEUCHEL: Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat sich eine allgemeine Tendenz zum anspruchsvollen visuellen Erlebnis entwickelt, sicherlich bedingt durch die modernen Medien. Dann gibt es noch einen ganz banalen Aspekt: Durch die Veränderungen in der Arbeitswelt muss unsere Freizeitgestaltung zunehmend flexibler werden. Diesem Bedürfnis kommen Museen entgegen, weil sie ein hohes Maß an flexibler Nutzung bieten.
K.WEST: Hat sich der gesellschaftliche Status von Kultur in den letzten Jahren verändert?
KEUCHEL: Ich kann diese Frage nur hypothetisch beantworten, würde aber sagen, dass dies tatsächlich der Fall ist. Ich habe den Eindruck, dass das Besondere von Kunst und Kultur nicht mehr so stark gesehen wird. Der Besuch in einer Kulturinstitution verliert immer mehr an gesellschaftlicher Relevanz. Zudem verschwindet die Kultur auch zunehmend aus unserem Alltag, weil sie auch in den Medien immer weniger präsent ist. Früher war das Angebot der Medien noch nicht so breit, weshalb es weniger Konkurrenz für die klassischen Kultureinrichtungen gab.
K.WEST: Was definieren die Jugendlichen als Kultur?
KEUCHEL: An erster Stelle stand für die Jugendlichen bei unserer Befragung die »Kultur der Länder und Völker«. Die ist für die ältere Bevölkerung weniger relevant, die vor allem die traditionellen Einrichtungen, insbesondere das Theater, nannte. Interessanterweise spielen diese traditionellen Kultureinrichtungen auch noch für Jugendliche und junge Erwachsene eine große Rolle, zumindest wenn es um die Definition von Kultur geht.
K.WEST: Was die Jugendlichen als Kultur definieren, ist das eine, das andere ist, wofür sie sich interessieren. Gibt es da große Diskrepanzen?
KEUCHEL: Vor dem Hintergrund meiner eigenen Biografie war es für mich fast schon erschreckend zu sehen, dass die heutige Jugend nicht versucht, ihre eigenen Interessen – vor allem Film und populäre Musik – als Kultur zu definieren. Das unterscheidet sie deutlich von anderen Generationen. Der Grund dafür, dass Jugendliche ihre Interessen nicht als Kultur verorten, ist vielleicht auch in der marktergreifenden Wirkung der Medien zu suchen. Gerade die populäre Musik ist heute in einem Maß kommerzialisiert und instrumentalisiert, dass es den Jugendlichen offensichtlich schwer fällt, ihr einen kulturellen Mehrwert abzugewinnen.
K.WEST: Viele der »hochkulturellen« Einrichtungen haben sich in den letzten Jahren breitenkultureller ausgerichtet. Ist diese Neuaufstellung bei den Jugendlichen angekommen?
KEUCHEL: Diese Aktionen sprechen meist die jungen Leute an, die als Publikum ohnehin schon gewonnen sind. Das sind vor allem die Gymnasiasten. Das Nicht-Publikum, das durch derlei Angebote interessiert werden soll, wird dadurch nur sehr schwierig erreicht. Diese Gruppe nimmt auch kaum jugendkulturelle Angebote an. Die bildungsfern Aufwachsenden konzentrieren sich offensichtlich sehr darauf, was die Medien ihnen zuhause anzubieten haben. K.WEST: Wächst diese kulturelle »Unterschicht«?
KEUCHEL: Man kann das vielleicht mit einem Querblick auf die Bildungssituation in Deutschland beantworten. Es ist ja bekannt, dass es – durch die starke Selektierung und die zunehmende Ghettoisierung in den Städten – eine Gruppe von Jugendlichen gibt, die von vornherein weniger Bildungschancen haben. Die Zahl der Jugendlichen, die von allen Bereichen abgekoppelt sind, also auch von der Kultur, steigt tatsächlich an.
K.WEST: Welche Rolle spielt die Schule, wenn es darum geht, Kinder an die klassische Kultur heranzuführen?
KEUCHEL: Sicherlich ist die Kunstvermittlung durch die Schule durchaus eine Möglichkeit, um möglichst eine breite Schicht von Kindern zu erreichen. Unsere Messungen haben aber gerade hier sehr negative Ergebnisse ergeben. Es gibt schon in der Schule eine sehr starke Selektion. Die Hauptschüler haben angegeben, dass sie im Rahmen des Unterrichts kaum mehr kulturelle Angebote besuchen. Hier gibt es sicherlich Handlungsbedarf. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auch diejenigen Eltern, die sich selbst nicht für Kunst interessieren und ihre Kinder nicht aktiv an sie heranführen, von der Schule erwarten, dass sie etwas für die kulturelle Bildung ihrer Kinder tut. Seitens der Schule müsste deshalb stärker klargestellt werden, was sie leisten kann und was nicht.
K.WEST: Ihre Studie hat hohe Zustimmung zutage gefördert, was die Einschätzung des Werts von Kultur und Kunst angeht. So hält auch ein großer Teil derjenigen, die derartige Veranstaltungen nicht aufsuchen, kulturelle Bildung für wertvoll. Das lässt darauf schließen, dass da ein zu erschließendes Reservoir brach liegt, das nur anders angesprochen werden muss?
KEUCHEL: Ich bin mir nicht sicher, ob man dort wirklich Brücken bauen kann. Zur Vorstellung einer guten Gesellschaft gehören offenbar Kunst und Kultur als integrale Bestandteile dazu. Das heißt aber nicht, dass diejenigen, die dieser Vorstellung anhängen, auch am Kulturgeschehen teilnehmen wollen.
K.WEST: Die WDR-Jugendwelle »Eins Live« bietet neuerdings auf ihrer Website ein Kunstprogramm an. Dort kann man dieselben Beiträge hören, die auf WDR 3 und WDR 5 für das kulturinteressierte, ältere Publikum versendet werden, nur in ein anderes musikalisches Ambiente eingebettet. Ist das ein erfolgreiches Modell, um Jugendliche für Kunst zu begeistern?
KEUCHEL: So ein spartenübergreifendes Konzept ist sicherlich nicht falsch. Wenn sie die Jugendlichen mit Musik ködern, die sie interessiert, haben sie ihre Aufmerksamkeit. Daran lassen sich dann andere Angebote koppeln. So können sicherlich Schwellenängste abgebaut werden. Wichtiger dabei ist aber das pädagogische Programm, denn nur dadurch lassen sich auch die neuen Inhalte positiv vermitteln. Es gibt ja einige gute Beispiele, was Eventisierung und Crossover für Effekte haben können. Der Film »Amadeus« hat gerade bei jungen Leuten eine Mozartbegeisterung und Hingabe zu einer Musik ausgelöst, die ihnen sonst gänzlich fremd ist. Wenn diese Begeisterung einmal ausgelöst ist, müssen aber unbedingt neue Bezüge hergestellt werden.
K.WEST: Was müssten die besonders unter dem Schwund von jungem Publikum leidenden Konzerthäuser tun, um Jugendliche wieder mehr für ihr Programm zu begeistern?
KEUCHEL: Ganz wichtig ist, frühzeitig anzusetzen. In einem Alter, in dem noch keine Vorurteile gegenüber klassischer Musik bestehen. Idealerweise beginnt der erste Kontakt schon im Kindergarten. Wichtig ist auch, später Berührungspunkte mit Musik außerhalb der KonInstrumente zeigen. Das können für die Jugendlichen sehr faszinierende Momente sein. Kaum zu realisieren, aber dennoch ganz wichtig, wäre, dass die Kunst in den Medien wieder mehr Aufmerksamkeit bekommt. Nur so können die Kinder Kunst als alltägliche Erfahrung akzeptieren lernen.
K.WEST: Wie kann sich das Marketing von Kulturhäusern auf das junge Publikum einstellen?
KEUCHEL: Das ist zunächst ein Problem des Ambientes. Ein zeitgemäßes Design und Café schadet da sicherlich nicht. Es gibt durchaus einige interessante Ansätze, die in diese Richtung gehen, wie beispielsweise die Opernkneipe in Bonn. Einige Institutionen arbeiten auch mit Club-Modellen. Da kann sich eine Szene, die sonst kaum mobilisiert werden kann, in einer für sie alltäglichen Atmosphäre treffen. Wichtig wäre auch, der größeren Flexibilität der Jugendlichen Rechnung zu tragen. Denn junge Leute kaufen ihre Tickets spontaner und deshalb später.
K.WEST: Was macht das Clubmodell für Jugendliche so interessant?
KEUCHEL: Junge Leute haben das Bedürfnis, sich in einer Gruppe zu profilieren. Über die Clubs sind sie in einer Einheit etwas Besonderes. Das funktioniert aber auch für die ältere Bevölkerung. Denken Sie nur an den »Art-Card«-Inhaber. So versuchen die Häuser eine Bindung zu schaffen, weniger über das Programm, sondern indem sie ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln.