// Die Kantine des Düsseldorfer Opernhauses ist kein guter Ort, um ein Gespräch mit Christof Loy zu führen. Er kennt hier beinahe jeden, der herein schneit. Alle kommen kurz an den Tisch, freuen sich, fragen, wie’s geht. Andere Regisseure sitzen einsamer vor sich hin. Aber Loy gehört nicht zur Kaste der Despoten, die vom Regiepult aus Psychokrieg führen und umgeben sind von einer Bannmeile Distanz. Mit der Rheinoper ist er seit langem eng verbunden. Schon von klein auf reiste er aus seiner Heimatstadt Essen an, um sich einmal quer durchs Repertoire zu schauen. Damals stand die Aalto-Oper noch nicht. Er habe, sagt er, »die Barfuss-Ära noch in guter Erinnerung«, die Mitte der 60er-Jahre begann und zwei Jahrzehnte währte.
Loy spricht mit gedämpfter Stimme, manchmal zögerlich. Er ist keiner, der seine Antworten fix parat hat. Er trumpft nicht gern auf, und wenn er über seine Arbeit spricht, wird er immer nachdenklicher. Für das, was er tut, hat er keine Formeln zur Verfügung und erst recht keine Gebrauchsanleitung zur Regiehandschrift des Christof Loy, der soeben zum dritten Mal als »Regisseur des Jahres« von der Fachzeitschrift Opernwelt ausgezeichnet wurde.
Gibt es die überhaupt? Ein typisches Markenzeichen, eine Stilvorgabe? Gewiss nicht. Allein seine letzten beiden Inszenierungen für die Rheinoper könnten nicht unterschiedlicher sein. Bei Mozarts frühem »Lucio Silla« fror er die Figuren auf der Bühne ein und reduzierte Bewegung, Gestik und Expression auf ein für viele schwer erträgliches Minimum. Die quasi dokumentarische Kälte nahm man ihm in Düsseldorf ausgesprochen übel. In Kopenhagen, wo die Koproduktion zuerst Premiere hatte, feierte man ihn gerade dafür. Loy begründet die verschiedenen Reaktionen mir einem Nord-Süd-Gefälle. »Die Menschen im Norden sind auf den genauen, mikroskopischen Blick eingeschworen. Sie schätzen das Pure und Klare.«
Christof Loy, der Musiktheater-Regie an der Folkwang-Hochschule sowie Philosophie, Kunstgeschichte und italienische Philologie in München studiert und u. a. bei Luc Bondy assistiert hat, nennt die Namen von Giorgio Strehler und Patrice Chéreau, wenn es um klimatische Einflüsse geht. Beides Regisseure, die das Physische und Vitale auf die Bühne brachten und bringen. Seit 1990 ist Loy als Regisseur tätig, beginnend in Stuttgart, wo er neben der »Zauberflöte« etwa auch Gorki, Racine sowie Marivaux inszenierte und mit dessen »Triumph der Liebe« 1997 zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden war.
Am Duisburger Haus der Rheinoper hatte soeben Gustave Charpentiers »Louise« Premiere, wo Loy es bewegter, fassbarer und sinnlicher zugehen lässt, als bei seinem »Silla«. Dennoch ist auch in dieser beklemmend intensiven Aufführung ein Trend zur Reduktion der Mittel unverkennbar. Die Opulenz von Massenets »Manon«, mit der Loy zu Beginn der Ära von Tobias Richter einen Sensationserfolg erzielte, scheint passé. Auch das Publikum liebte ihn für die sprühende Eleganz und hochmusikalische Intelligenz, mit der er Schweres durchlüftete und Leichtes sanft melancholisch einfärbte. Dazu gehören die – allesamt immer noch im Spielplan präsent – hinreißende »Finta giardiniera« von Mozart, Rossinis witzig ironische »L’Italiana in Algeri« und die Herkulestat der monumental zweiteiligen »Les Troyens« von Berlioz, denen Loy als Satyrspiel listigerweise Offenbachs »La belle Helène« anhängte.
Diese Trias wird die laufende Spielzeit und damit die Ära Richter beenden, für den Loy immerhin 16 Produktionen herausbrachte. Der scheidende Generalintendant kann sich zugute halten, Loy wenn nicht entdeckt, so doch in entscheidender Phase gefördert und ermuntert zu haben. Schon vor Amtsantritt hatte Richter Loys »La gioconda« in Bremen gesehen und ihm angeboten, am Rhein das französische Repertoire zu erarbeiten.
Doch wurde es weit mehr als nur die französische Oper: Mozart, Donizetti, Verdi, Leoncavallo/Mascagni und ein Monteverdi-Zyklus folgten. »Orfeo« und »Ulisse« wurden frenetisch gefeiert, zumal erstmals auch alte Instrumente in den Orchestergraben eingezogen waren. Die nachtschwarze »Poppea« dagegen brachte den Skandal. Loy musste in Düsseldorf Buhs ertragen und Debatten darüber führen, ob seine Inszenierung denn jugendfrei sei. Spätestens seit damals sind die Zeiten uneingeschränkter Zustimmung vorbei. Er ist sperriger, ernsthafter, fordernder geworden. Das Ideal der Rücknahme beschäftigt ihn. »Ich frage mich immer: Wie viel kann man weglassen? Eigentlich will ich nur noch Körper und Stimme auf der Bühne haben, und alles über die unzähligen Varianten der Artikulation und Bewegung erzählen.« Karge Kost für Kulinariker.
Auch bei »Louise« muss das Publikum zu Beginn darben und eine stumme Handlung in nüchterner Umgebung aushalten: Zwei Frauen in einem Wartezimmer. Mutter und Tochter. Sie machen nicht viel. Handtäschchen auf, Handtäschchen zu. Taschentuch, Bonbon, sparsame Blicke, eckige Körperhaltungen. Und doch erzählt Loy damit schon ein Drama. Von einer herrischen, Besitz ergreifenden Mutter, die jede Regung ihrer zarten, nervösen Tochter argwöhnisch beäugt. Erst nach einer kleinen Ewigkeit setzt Charpentiers zartfühlende Musik ein, die zwischen Wagner’scher Leitmotivik, veristischen Einflüssen und der französischen Schule Massenets ein eigenes, zwischen Sprödigkeit und Emphase changierendes Kolorit
entwickelt. Im Pariser Kleinbürgermilieu spielt die traurige Geschichte der Näherin Louise, die von ihren Eltern in pervertierter Liebe gefangen gehalten wird. Aus der Ferne verliebt Louise sich in den Künstler Julien, bricht aus der Kleinfamilie aus, erlebt einen kurzen Glücksrausch als Muse vom Montmartre und muss, erpresst mit der angeblichen Krankheit des Vaters, ins Elternhaus zurückkehren.
Sentimentalität und Paris-Idylle liegen da nahe, doch Loy widersteht der Gefahr der Genrebebilderung. Sachte präpariert er den Kern des Dramas heraus. Man ahnt zunächst und sehr spät weiß man: Louise ist ein missbrauchtes Kind, der Vater hasst sich dafür, die Mutter duldet und vertuscht den Inzest und hasst dafür sich und die anderen. Ein Schuldzusammenhang, unauflösbar. So erweist sich das Wartezimmer am Ende als Raum einer psychiatrischen Praxis; Luises Liebhaber Julien erscheint im Arztkittel.
Meisterhaft ist die Subtilität, mit der Loy das tragische Kammerspiel erzählt. Auch die Chorszenen sind sehr lebendig. Wie schafft er das? »Ich schreibe erst einmal gar nichts vor, erkläre nur ganz detailliert die Situation. Dann ermuntere ich jeden einzelnen, mir etwas ganz Eigenes anzubieten. Das sammele ich dann. Erst danach kommt die Phase der Organisation und der Choreografie.« Es steht nicht alles schon im Regiebuch. Obwohl er heute konzeptioneller, »weniger naiv als früher« vorgehe und lange mit Dramaturgen diskutiere, entwickelt Loy noch immer bei der Arbeit. Unverzichtbar ist ihm daher das Mitspracherecht bei der Besetzung. Er könnte nie, wie viele seiner Kollegen, mit einem Konzept ankommen, ohne die Sänger zu kennen. »Der Stoff muss für mich ein Gesicht kriegen. Sonst gerät gar nichts in Gang.«
Bei »Louise« habe er sofort an Sylvia Hamvasi gedacht. Manchmal ist sogar erst ein bevorzugter Interpret da und dann erst die Idee, welches Stück man idealerweise mit ihm oder ihr verwirklichen könne. Mitspracherecht bei der Besetzung räumt man dem Gefeierten inzwischen überall ein: an den Staatsopern in Hamburg und München, in London, Brüssel, bei den Festspielen in Glyndebourne und Salzburg. Störrische Ausnahme bildete die Wiener Staatsoper. Hier sollte er vor Jahren inszenieren, wobei seine Rechte sogar vertraglich geregelt gewesen seien. Man hielt sich jedoch nicht an die Abmachung und setzte ihm das Ensemble vor die Nase. Daraufhin pfiff Loy auf die erste Adresse und stieg unverzüglich aus. Inzwischen inszeniert er am Theater an der Wien und ist ohnehin bis 2014 verplant.
Inspirationen holt er sich bei Kollegen aus dem Schauspiel, Nicolas Stemann ist derzeit sein Favorit. Er selbst macht keinen Unterschied zwischen beiden Genres. Zumindest nicht, wenn er sich um seine Art handelt, Oper zu inszenieren. Denn: »Ich liebe die Oper, aber hasse 95 Prozent dessen, was man normalerweise zu sehen kriegt. Diese schrecklichen Aushilfsgesten.« Das berüchtigte Augenrollen, Armringen und steife Aufpumpen. Bei Christof Loy wird man dergleichen vergeblich suchen. //