TEXT: GUIDO FISCHER
Wenn prominente Klassikinterpreten auf halber Strecke ihrer Laufbahn zu Buchautoren werden und aus dem Orchestergraben plaudern, kommen häufig nur hübsche Anekdotensammlungen heraus. Nicht so bei Christian Gerhaher. Vor wenigen Wochen erschien die biografische Bilanz des Meister-Baritons aus Niederbayern: »Halb Worte sind’s, halb Melodie«, so der Titel – ein umfangreiches Gespräch mit dem Sänger, gänzlich frei von Künstlerklatsch. So wie sich Gerhaher bislang in Interviews vollkommen auf seine Profession konzentriert, tut er dies auch im eigenen Buch – nur noch ausführlicher.
Die Liste der ihm wichtigen Dirigentenpersönlichkeiten wie Simon Rattle und Daniel Harding werden rasch im Vorwort abgehandelt, bevor es ums Wesentliche geht – um den Sängerberuf (zu viele Konzerte schmälern die Lebensqualität) und um Opernregie-Konzepte (schrille Modernisierungen lehnt er ab). Ebenfalls setzt sich Gerhaher umfassend mit jenen Liedkomponisten auseinander, mit denen er zu einem der führenden Liedsänger der Gegenwart aufstieg.
Robert Schumann zählt dazu, dessen »Dichterliebe« die erste Zusammenarbeit mit seinem pianistischen Seelenverwandten Gerald Huber vor zwei Jahrzehnten markierte. Franz Schubert kommt selbstverständlich zum Zuge, wie Gustav Mahler, mit dessen schaurig bitteren, vertraut volkstümlichen, zugleich extrem avantgardistischen Liedern sich Gerhaher seit dem Musikstudium beschäftigt. Bei Mahler fasziniert ihn die Mischung aus berechtigter Weltskepsis und zugleich unerschöpflicher Liebe zu dieser Welt. An anderer Stelle schwärmt er von Mahlers Musik, die für ihn »immer den kleinen Mann achtet: dass man sich eben nicht über andere erhebt«.
Welchen Zyklus Gerhaher auch singt, wie nun in Essen die »Lieder eines fahrenden Gesellen« und »Kindertotenlieder«, stets nimmt er sängerisch eine Haltung ein, die ihn von seinem Idol Dietrich Fischer-Dieskau klar unterscheidet. Setzte der gerade bei den Schubert- und Mahler-Interpretationen auf stimmschauspielerische Effekte, um das Existenzielle der Musik doppelt und dreifach zu unterstreichen, verzichtet Gerhaher auf theatralischen Überschwang. Vielmehr breitet er mit seiner äußerst ausgewogenen, bei aller Ausdrucksintensität kultiviert klingenden und selbst in den Höhen nicht ins manieristisch Säuselnde verfallenden Stimme Klangseelenlandschaften aus, die einem sehr nahe gehen. Bei ihm ist Mahler nicht nur Chronist von Katastrophen oder Visionär, sondern auch einfach ein glücklicher Mensch.
Wenngleich Gerhaher im Verlauf seiner Karriere allein als Mahler-Sänger mit Pult-Granden wie Riccardo Chailly und Pierre Boulez zusammenarbeiten konnte, sind ihm die Orchesterlieder in der Klavierfassung schon deshalb die liebsten, weil er mit seinem musikalischen Lebensgefährten Gerald Huber auftreten kann. Parallel zum Musik- hat er ein Medizin-Studium ordentlich zu Ende gebracht; seine Promotion behandelte die »Handgelenksspiegelung«. So profitiert er als Sänger-Künstler von der Kenntnis der menschlichen Anatomie mit all ihren Lebens- und Leidensadern.
Christian Gerhaher & Gerald Huber: Lieder von Gustav Mahler, 7. Juni 2015, Philharmonie Essen.
Sein Buch »Halb Worte sind’s, halb Melodie – Gespräche mit Vera Baur« erschien im Henschel/Bärenreiter Verlag, Leipzig; 192 Seiten; 22,95 Euro.