TEXT: ANDREAS WILINK
Der Mann ist eine Zumutung, wie er schon spricht und sich benimmt. Und dann, wie er malt! Timothy Spall, ausgezeichnet als bester Darsteller in Cannes, ist als Mr. Turner bärbeißig, brummig, ungehobelt, plump. Eine Dickens-Figur, grotesk, fast satirisch verzeichnet, doch anrührend in seinem verschlossenen Wesen und zart unbeholfen, wenn er etwa Henry Purcells Trauergesang der Dido mitsingt. Im englischen Original versteht man ihn kaum; die deutsche Synchronfassung lässt ihn kommunikativer erscheinen. Für die Mutter seiner Töchter, gewiss eine ziemliche Schreckschraube, hat William Turner kaum ein Wort. Er teilt sein Leben mit dem geliebten betagten Vater, der ihm bis ans Ende seiner Tage als Handlanger nützlich ist, die Farben einkauft und die Leinwände präpariert. Dann ist da noch eine brave Haushälterin, irgendwie verwandt, und ab und an auch zu anderen Diensten willfährig.
Mike Leigh zeigt Szenen aus einem bürgerlich anarchischen Heldenleben in der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts: William Turner, anerkannter Künstler für seine gloriosen Seestücke, Mitglied der Akademie, Zierde der Salons, Kultfigur der Romantik. Wir sehen von Beginn an einen gänzlich unkonventionellen Mann: der zu Anfang in einer belgisch-holländischen Landschaft mit Windmühle und zwei Frauen mit weißen Hauben steht und zeichnet; später an der Kreideküste bei Margate immer wieder das Meer studiert und sich bei Wind und Wetter an einen Schiffsmast binden lässt, um die Elemente in ihrer Wucht hautnah zu erfahren; der er in einem Bordell Aktstudien macht; der seinen eigenen frühen Malstil verhöhnt, nachdem er die pastosen Striche auf einem Gemälde des Zeitgenossen Constable betrachtet hat; der zunächst unter falschem Namen eine lange Liebesbeziehung zur Witwe Sophia Booth in Margate unterhält. Der mit allem bricht, auch mit sich selbst, wenn es sein muss.
Turner setzt sich – ausgenommen ist der große Kritiker John Ruskin – dem Gespött aus, der maliziösen Ablehnung der Zunft und der jungen Queen Victoria, nachdem sich seine Bilder explosiv auflösen, alles klar Umrissene schwindet in Farbwirbeln, Lichtballungen, abstrakter Struktur und Kaskaden von Glanz und mattem Leuchten. Etwa dem Gold des Firmaments, das Mike Leighs großartiger Kameramann Dick Pope in einem wunderbaren Panorama der Themse mit Dampfschiff aufgreift. »Die Sonne ist Gott« sollen die letzten Worte dieses Pharao der Malkunst gewesen sein. Mike Leighs Film ist seiner würdig.
»Mr. Turner«; Regie: Mike Leigh; Darsteller: Timothy Spall, Paul Jesson, Dorothy Atkinson, Marion Bailey; UK 2014; 149 Min.; Start: 6. November 2014.