Interview: Ulrich Deuter
Vieles, was im Kulturhauptstadtjahr 2010 in Essen und dem Ruhrgebiet stattfinden wird, ist noch unklar, noch mehr bloßer Traum. 1.800 Projekte sind bis zum Bewerbungsschluss eingereicht worden – eines aber hat bereits begonnen: der »Platz des europäischen Versprechens« von Jochen Gerz. Der 1940 in Berlin geborene, in Düsseldorf aufgewachsene und in Paris lebende Künstler will im Turm der Bochumer Christuskirche sowie auf dem Platz davor zirka zwei Dutzend große Steinplatten im Boden einlassen und in sie Tausende von Namen gravieren – Namen von Menschen, die damit ein »Versprechen für Europa« abgeben. Damit soll ein gewaltiges Register der Lebenden entstehen, ein Manifest gegen zwei andere Register, die seit 1931 die Wände der aufwändig in Mosaiktechnik gestalteten »Heldengedenkhalle« im Turm bedecken: eine Liste von im Ersten Weltkrieg gefallenen Bochumern sowie eine Liste der »Feindstaaten Deutschlands«: Frankreich, England, Italien, Polen, die USA, Russland usw. – ein schauriger Ausblick auf die Fronten des nächsten, des Zweiten Weltkriegs. Jeder kann bei Gerz’ Projekt mitmachen. Sein Name wird dann öffentlich gemacht – in Stein geschlagen; das damit verbundene Versprechen gegenüber Europa aber bleibt geheim. Zum Ende des Kulthurhauptstadtjahres werden sämtliche Namen – es werden um die 10.000 sein – in die Platten graviert sein; vier Fräsmaschinen werden zuvor zwei Jahre lang tagtäglich ihre Arbeit getan haben. Derzeit haben mehr als 1800 Menschen ihre Teilnahme zugesagt. //
K.WEST: Wie sind Sie auf diesen Ort, auf diese Intervention gekommen?
GERZ: Ich befand mich fast zufällig bei einem Gespräch über Bochums Beitrag zum NRW-städtebaulichen Wettbewerb »Stadt macht Platz«. Die Neugestaltung betraf den öffentlichen Umraum der Christuskirche. Ich habe mir und den anderen die Frage gestellt, ob man diesem Platz, eher ein Unplatz, nicht statt neuen Treppen, Lampen und Bänken eine andere Bedeutung geben könnte. Das ist im Planungsamt der Stadt Bochum hängen geblieben.
Ich hatte vorher die »Heldengedenkhalle«, eine Kapelle im Turm der Christuskirche, mit ihrer Liste der deutschen Feindstaaten gesehen. Wer 1931 ein Mosaik von dieser Größe anlegt, der muss davon überzeugt sein, etwas auf Dauer herzustellen. Ich hatte das Gefühl, an einer seltenen Stelle zu stehen. So hatte ich die Widersprüche der frühen 30er Jahre noch nicht gespürt. Nach dem Krieg war Deutschland sehr rasch ein von Vergangenheitsnähe gesäuberter Ort. Hinzu kam, dass vor meinem Besuch in Bochum die Franzosen die europäische Verfassung abgelehnt hatten. Ich hatte das Gefühl, dass diese Ablehnung mich treffen würde, mein Selbstverständnis, meine Biografie. Als Deutscher in Frankreich bin ich eher Europäer als ein Deutscher oder Franzose. Das eigene Leben hatte immer etwas zu tun mit der europäischen Gegenwart: vom Abbau der Kriege bis zum Abbau der Grenzen. Das war und ist ziemlich unverhandelbar.
K.WEST: Betrachtet man die beiden Listen in der Kapelle der Kirche, die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, die Namen der Feindstaaten Deutschlands, und vergleicht jene Weltsicht mit der heutigen, dann erkennt man innerhalb einer historisch sehr kurzen Zeit – einem guten halben Jahrhundert – einen ungeheuren zivilisatorischen Fortschritt. Was also beklagen Sie am Zustand Europas?
GERZ: Richtig, es ist ein kurzer Zeitraum. Längst sind die Feinde von damals Freunde geworden. Das Kollabieren des Feindes aber ist eine Herausforderung. Wir sind durch unsere Kultur nicht darauf vorbereitet. Wir sind auf Shakespeare vorbereitet: Ein bisschen Blut rechts, ein bisschen Blut links, und dazwischen Schreien, Heulen und Lachen. Auf eine Friedenskultur, auf den Verlust des anderen als Feindbild, darauf sind wir nicht vorbereitet. Wenn der andere in seiner Andersartigkeit kollabiert und wir den Schwarzen nicht mehr schwarz nennen können, wenn wir im anderen nur die Ähnlichkeit, also nur noch uns selber sehen – dann ist das eine Herausforderung, mit der wir noch nicht umgehen. Das ist, was ich mit der Arbeit sagen will, die ja in der bisher vor der Öffentlichkeit versteckten »Heldengedenkhalle« beginnt. Was sind wir heute? Sind wir die Toten, die Feinde oder die Lebenden? Sind die Serben, die Italiener, die Polen und Engländer unsere Feinde oder sind wir das selbst, die Polen und die Serben? Können wir überhaupt noch sagen, wer wir sind? Wir sind wie die andern. Eigentlich ist diese nackte Nähe schön. In unserer Intimität tragen wir aber einen Selbstzweifel, einen identitären Phantomschmerz, mit uns herum. Das ist Europa heute.
K.WEST: Wenn Kultur also auch das ist: Krieg, Feindschaft. Wie kann dann Kultur mit dazu beitragen, dass der europäische Gedanke ein Friedensgedanke wird?
GERZ: Teilnehmen kann jeder am »Platz des europäischen Versprechens«. Sein Versprechen ist frei. Er kann Europa herbeiwünschen oder bezweifeln. Sein Versprechen ist seine Sache. Er behält sein Versprechen für sich. Aber jeder gibt ein eigenes Versprechen ab. Niemand tritt an unsere Stelle auf dem Platz, keiner spricht für andere. Kultur kann nicht darin allein bestehen, dass wir von vielen musealen Wunderkammern umgeben sind, die wir bestaunen, um selbst klein zu werden. Die Menschen können in der Demokratie lernen, zu sich selbst zu stehen und sich zu manifestieren. Die Dimension der eigenen Verantwortlichkeit bis hin zum deutschen Wort Täter ist Norm und Normalität für den Souverän in der Demokratie, die Öffentlichkeit. Der Souverän ist die Öffentlichkeit, niemand sonst. Der Souverän kann kein Opfer sein.
K.WEST: Wird denn nicht der Normalbürger, der Nichtkünstler, wenn er an Ihrer Arbeit teilnimmt, wieder zur Passivität gedrängt? Er gibt zwar seinen Namen für Europa, aber seine Gedanken soll er geheim halten.
GERZ: Ich mache einen kleinen Schritt Richtung Umverteilung zwischen Betrachter, Künstler und Werk. Ich sehe mich dabei ganz und gar in der Geschichte. Auch in der Kunstgeschichte. Was sich nicht ändert: Wir sind Räume der Vorstellung und Geheimnisträger. Wir sind nicht aus Glas. Jeder ist eine geheime Botschaft, jeder von uns ist eine Insel. Es gibt eine individuelle Kreativität und eine gesellschaftliche Kreativität. Die eine kann die andere nicht platt machen, ohne sich selbst zu gefährden. Jeder, der seinen Namen gibt, macht Europa ein Geschenk. Vielleicht schreibt er sein Versprechen auf, vielleicht diskutiert er es zu Hause, vielleicht geht er damit zur Zeitung. Vielleicht behält er es für sich. Vielleicht vergisst er es. Vielleicht ist er für Europa, vielleicht ist er dagegen. In der Arbeit ist davon nichts zu sehen. Wie in anderen Arbeiten von mir, gibt es etwas, das es nicht zu sehen gibt. Wenn das zur Diskussion beiträgt, so ist es vielleicht wichtiger, als wenn es zu sehen wäre. Teil des Lebens zu sein ist vielleicht genauso wichtig wie Teil der Kunst. Die Gesellschaft, deren Teil wir sind, ist eine ziemlich ungestüme Quelle der Kreativität und der Erfindung, die täglich ganz Neues hervorbringt. In diesem Wirbel der Kreativität leben wir. Jeder Mensch ist Teil des Unbekannten. Wir lernen uns zu respektieren, wenn wir es wagen, in uns den Autor zu sehen.
K.WEST: Die eingravierten Namen wird man ja, anders als in vielen Ihrer früheren Arbeiten, sehen und lesen können. Machen Sie es den Menschen, die da mittun, nicht insofern etwas leicht, als es die Eitelkeit kitzelt, den eigenen Namen auf dem Pflaster stehen zu sehen?
GERZ: Bisher gehören die Namen im öffentlichen Raum den Toten. Ich kenne keinen Ort für die Namen der Lebenden. Das stimmt umso mehr, als es eine Frage der Zeit ist, bis auch dieser Platz ein Platz der Toten sein wird. Man kann sagen, das ist aussichtslos, man braucht den Versuch erst gar nicht zu machen. Vanitas, hieß es im Mittelalter. Wir aber sagen, unsere Welt ist kein Totenhaus. Wir sagen es mit allen Mitteln, und die Kunst gehört dazu. Vielleicht verstehen Sie jetzt besser, dass das Gespräch uns lebendiger macht als der schönste Text in Stein. Man kann sagen, der Platz ist leer. Aber er ist eigentlich nicht leer. Er ist leer, weil ich die Namen lese. Er ist leer, weil das was ihm fehlt, nur im Leben sein kann, nur im Austausch zwischen Menschen Gegenwart werden kann. Das ist ephemer. Das ist zeitlich, das ist eben lebendig. Man kann nicht alles in Stein haben, vor allem nicht sich selbst. Angenommen, es würde mit der Demokratie in Europa etwas passieren, was ich nicht ausschließe. Was würde dann mit den Namen passieren? Würden sie als ein Bekenntnis zum Frieden in Europa gelesen? Würden sie stören? Was kann man in sie morgen hineinlesen? Ich glaube, dass die Liste nicht abgeschlossen sein wird, wenn der »Platz des europäischen Versprechens « am 31. Dezember 2010 eingeweiht wird. Sie ist eine von drei Listen – die der Toten, der Feinde und der Lebenden – und wird auch in Zukunft instabil sein und davonabhängig, was um sie herum passiert.
Die Einladung zum Mitmachen beim »Platz des europäischen Versprechens« findet sich unter www.pev2010.eu