Nach Canossa gehen – nein, das wollten sie erst nicht, die Paderborner. Gewiss: Eine große historische Ausstellung würde der Stadt mal wieder gut tun; 1999 hatten hier immerhin mehr als 300.000 Menschen die Karolinger-Ausstellung gesehen. Aber damals hatte man an Karl erinnern können, den Großen, den Papst Leo III. 799 in Paderborn aufgesucht und um Hilfe gegen römische Widersacher gebeten hatte. Dagegen Canossa? Inbegriff einer demütigenden Niederlage? Viel zu negativ für einen aufstrebenden Wirtschaftsstandort, sagten Marketingbewusste. Heute berichtet Prof. Dr. Christoph Stiegemann belustigt von diesen Überlegungen. Dem Kunsthistoriker und Leiter des Diözesanmuseums sowie seinen Mitstreitern dürfte der Widerstand eher Ansporn gewesen sein, Beweis für die Wirkmächtigkeit des Mythos Canossa. Und sie haben sich durchgesetzt: Die Ausstellungsgemeinschaft aus Stadt, Erzbistum und Landschaftsverband Westfalen- Lippe präsentiert »Canossa 1077«.
Eine »leere Worthülse« sei Canossa heute, sagt Stiegemann, aber eine viel gebrauchte: Wenn jemand öffentlich klein beigeben, zu Kreuze kriechen und Kreide fressen muss, lässt man ihn gern metaphorisch »nach Canossa gehen«. Oft, so vermutet der Professor, wüssten die Nutzer dieses Bildes allenfalls schemenhaft, worauf es sich bezieht: dass nämlich im Jahr 1077 der deutsche König Heinrich IV. vor die oberitalienische Burg Canossa zog und dort Papst Gregor VII. demütig um Aufhebung des gegen den Herrschers verhängten Kirchenbanns bat. Den Bußgang des mittelalterlichen Königs, die politischen und geistigen Hintergründe des Konflikts, seine regionalen Auswirkungen – und die Entwicklung »Canossas« zum Schlagwort der Neuzeit zeichnet die Paderborner Schau an drei Ausstellungsorten nach: Museum in der Kaiserpfalz, Erzbischöfliches Diözesanmuseum und Städtische Galerie Am Abdinghof.
»Erschütterung der Welt« dröhnt der Untertitel der Ausstellung. Er gibt nur wieder, was der Bischof Bonizo von Sutri damals über den Streit zwischen König und Papst geschrieben hat. Und was die Zeitgenossen fühlten, sagt Professor Stiegemann, sei aus historischer Perspektive richtig: Jener »Investiturstreit«, dessen dramatischer Höhepunkt Canossa war, habe immerhin die Saat für das gelegt, was man modern als »Trennung von Staat und Kirche« bezeichnet. In jedem Fall sei die Legitimation königlicher Macht auf eine neue Basis gestellt worden, und das Bewusstsein des Wandels habe sich auch in der Kunst manifestiert: in der neuen Formensprache der Romanik. Dies alles in Paderborn zu zeigen, haben sich Historiker, Archäologen, Kunst- und Bauhistoriker, Theologen, Sprach- und Musikwissenschaftler zusammengetan. Am Anfang des hochmittelalterlichen Streits stand das Reizwort Reform. Unter Geistlichen griff ein Gefühl um sich, dass es der institutionalisierten Kirche an religiöser Substanz mangele, dass Kleriker zu sehr in weltliches Wohlleben und profane Politik verstrickt seien. Der neue Zug zur Besinnung, zur Askese, zurück zum ursprünglicheren Christentum verbindet sich vor allem mit neuen Mönchsorden und Klöstern, ganz besonders mit dem burgundischen Cluny. Um »den Geist von Cluny nach Paderborn zu holen« und den Besucher in die mittelalterliche Klosterwelt »eintauchen« zu lassen, zeigt die Ausstellung mehrere Exponate von dort.
Auch außerhalb der Klöster fand die Reformbewegung im 11. Jahrhundert viele Sympathisanten, wobei sich nicht alle der Sprengkraft bewusst waren, die darin steckte. König Heinrich III. etwa war durchaus ein Anhänger der Reformbewegung. Unter diesem Vorzeichen machte er 1046 dem Zugriff des römischen Adels auf das Amt des Papstes ein Ende und ließ einen deutschen Papst inthronisieren. Der wiederum krönte Heinrich III. zum Kaiser. Solches Verhalten war gedeckt durch das frühmittelalterliche Verständnis von weltlicher und geistlicher Macht, das keine scharfe Abgrenzung zwischen päpstlichen und königlichen Kompetenzen kannte. Gerade die deutschen Könige hatten ein System perfektioniert, in dem sie die Bestallung, die »Investitur « von Erzbischöfen, Bischöfen und Äbten maßgeblich beeinflussten. Schließlich empfanden sie sich als Herrscher von Gottes Gnaden, als eines von »zwei Schwertern des Christentums«. Heinrich III. wäre es kaum in den Sinn gekommen, dass die so geschätzten Reformer den König schlicht als Laien ansehen könnten. Genau das aber geschah, und die Explosion dieses Sprengsatzes traf seinen Sohn, Heinrich IV. Eine »spannende Figur« nennt Stiegemann diesen Heinrich, den letzten Salierkönig. Begabt, aber sprunghaft sei er gewesen, und mit geringem Verständnis für konsensorientierte Politik gesegnet. Im Gegenteil: »Viel Feind, viel Ehr’« scheint sein Prinzip gewesen zu sein. Er legte sich immer wieder mit den Fürsten daheim an – und provozierte gleichzeitig den Papst, indem er von 1071 an mehrmals Bischofssitze in Italien nach Gutdünken zu besetzen versuchte. Damit geriet er an den Richtigen: Der ehemalige Cluniazensermönch und Kardinal Hildebrand war als Papst Gregor VII. dem streitbaren König ein mindestens ebenbürtiger Gegner.
Welche Macht er für das Amt des Papstes beanspruchte, das ließ Gregor 1075 in einer 27 Punkte umfassenden Liste protokollieren. Zwar wurde dieser dictatus papae – das Original wird in Paderborn gezeigt – nicht veröffentlicht, doch handelte Gregor nicht weniger rigoros. Und so schrieb er Heinrich IV. im Jahr 1076 vorwurfsvoll, der König möge endlich die Finger von der Laieninvestitur lassen. Heinrich aber fühlte sich ebenso stark und konnte auf einem Reichstag zu Worms zahlreiche Bischöfe auf seine Seite ziehen. In einem Brief an den »falschen Mönch Hildebrand« wurde der Papst für abgesetzt erklärt: »Ich, Heinrich, durch die Gnade Gottes König, sage dir mit allen meinen Bischöfen: Steige herab, steige herab, du auf ewig zu Verdammender! « Gut gebrüllt, aber leichtfertig: Postwendend schlug der Papst zurück, belegte den König mit Exkommunikation und Kirchenbann.
Was das für einen sakralen, theokratischen Herrscher wie Heinrich bedeutete, sei kaum mehr vorzustellen, sagt Professor Stiegemann. Es war dieser Bannstrahl, den die Zeitgenossen als »Erschütterung der Welt« empfanden. Die Exkommunikation, der Ausschluss von den Sakramenten, bedeutete dazu eine unmittelbare Gefahr für das königliche Seelenheil. Und da der Papst Heinrichs Untergebene von ihrem Treueid entbunden hatte, war Heinrich politisch eine mehr als lahme, eine fast schon tote Ente. Viele seiner Fürsten und Bischöfe bekamen kalte Füße und stellten ihm ein Ultimatum: Binnen eines Jahres, bis zum Reichstag in Augsburg, müsse er den päpstlichen Bann loswerden, sonst werde er nicht länger König sein. Heinrich blieb nichts anderes übrig, als sich dem Papst demütig zu unterwerfen. Da Gregor Anstalten machte, sich in Deutschland mit der Fürstenopposition zu treffen, musste Heinrich sich beeilen. Noch im Dezember 1076 brach er auf gen Rom, stieß aber schon in Canossa auf den Papst. Eine atmosphärische Inszenierung der unendlich mühsamen Alpenüberquerung im Ausnahmewinter 1076/77 empfängt den Besucher im Museum Kaiserpfalz, wo die politische Dimension des Konflikts und die Konfrontation der beiden Protagonisten illustriert werden. Zentrales Exponat ist die berühmte, illustrierte Vita der Mathilde von Tuszien aus der Biblioteca Apostolica Vaticana. Diese Markgräfin Mathilde war im Jahr 1077 Hausherrin auf der Burg Canossa und hat zwischen den Streithähnen vermittelt. Deren gegensätzliche Positionen werden unter anderem von zwei unbequem wirkenden Sitzmöbeln repräsentiert: hie Heinrichs Thron aus der Goslarer Kaiserpfalz (oder doch die bronzenen Lehnen davon), da der marmorne, zum ersten Mal aus Rom verliehene Papstthron des 11. Jahrhunderts.
Wie genau das Zusammentreffen zwischen Heinrich und Gregor in Canossa abgelaufen ist, ob Heinrich in seiner Buße nur einen listigen Schachzug sah, darüber streiten bis heute die Wissenschaftler. Die einzigen Berichte über Canossa waren Teil der umfangreichen publizistischen Polemik, die den Investiturstreit begleitete. »Wir wissen es einfach nicht«, so beruhigte ein Historiker seine Kollegen während der Vorbereitungen zur Ausstellung. Immerhin wird der Besucher mit dem typischen Zeremoniell der Kirchenbuße vertraut gemacht, ein im Mittelalter übliches Verfahren – nur dass eben Heinrich sich dem für Laien vorgesehenen Ritual unterwerfen musste. Dass der Investiturstreit mit »Canossa« keineswegs beendet war und seine berühmtesten Protagonisten um Jahre überlebte, wird unter der drastischen Überschrift »Der harte Tod der Helden« abgebildet: Gregor VII. starb 1084 im Exil von Salerno, während in Rom die Engelsburg von Heinrichs Truppen belagert wurden. Als Heinrich IV. am 7. August 1106 starb, war er in keiner komfortableren Situation: von seinem Sohn entmachtet – und wieder einmal von Rom gebannt.
Die Ausstellung im Diözesanmuseum widmet sich der Reformbewegung, dem theologischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund des Investiturstreits. Zudem wird gezeigt, wie die neuen geistigen Strömungen parallel in veränderte politische Strukturen und künstlerische Ausdrucksformen mündeten. Unter vielen bedeutenden Exponaten aus aller Welt ist der heimische Dom-Tragaltar des Bischofs Heinrich II. von Werl für Christoph Stiegemann »das Gelenkstück zwischen Canossa und Paderborn« und einer von vielen Beweisen dafür, dass der Investiturstreit auch das Leben in der Provinz prägte. Der Stifter des Altars nämlich war ein Anhänger König Heinrichs IV., nahm 1084 an der Belagerung der Engelsburg in Rom teil und wurde vom König und seinem Gegenpapst zum Paderborner Bischof ernannt – obwohl es dort schon einen Bischof gab, ordentlich vom Domkapitel gewählt und mit Gregors Plazet. Heinrich II. von Werl schaffte es, seinen Gegner zu vertreiben und sich bis 1127 als Bischof zu halten, wobei er eine Flut von Absetzungssentenzen und Bannflüchen auf sich lud.
Dass dieser Bischof seinen Dompatronen den prächtigen Tragaltar stiftete, sei eine zeittypische »Jenseitsvorsorge« gewesen, erläutert Stiegemann. Denn die Beteiligten nahmen das Hin und Her mit Päpsten und Gegenpäpsten, mit Befehlen und Bannflüchen religiös nicht auf die leichte Schulter: »Bei jeder Messe, die er las, mochte er sich fragen: Ist das gottgefällig oder ist das Teufelswerk? Eine große seelische Belastung. « Diese zweifelnde Sorge um das Seelenheil sei typischer Auswuchs der krisengeschüttelten Zeit und vielfach Motiv für ähnliche Stiftungen gewesen.
Hauptergebnis des Investiturstreits, so Stiegemann, sei eine veränderte Legitimation der weltlich-königlichen Herrschaft gewesen. War sie bis dahin mythisch auf alttestamentarische Vorgänger zurückgeführt worden, so wurde nach dem Kompromiss des Wormser Konkordats von 1122 unter den Staufern eine eher juristische Begründung der Herrschaft versucht. Der darin sichtbare »Rationalisierungsschub« habe sich auch in der Kunst, in der aufkommenden Romanik bemerkbar gemacht. Die »vibrierende, fast impressionistische Lebendigkeit« der ottonischen Kunst sei in der Romanik einem Trend zur Plastizität, zur Stilisierung – aber auch zur Normierung gewichen, was die einheitliche, europaweite Verbreitung des Stils begünstigt habe. Dass diese Entwicklung sich auch in der Musik manifestiert habe, kann man in Paderborn hören: gregorianische Gesänge – mal nach den alten, vagen Tonhöhenangaben durch Neumen gesungen, mal nach genaueren, aber auch engeren Notationen der Romanik.
»Seien Sie ohne Sorge – nach Canossa gehen wir nicht!« So führte Bismarck das Wort am 14. Mai 1872 in den Reichstag ein. Obwohl dies durchaus eine beschwichtigende Wendung in einem nebensächlichen Disput mit dem Vatikan war, wandelte sich das Wort sogleich zum nationalistischen, antikatholischen Schlagwort. Seine Karriere vom Kampfbegriff zur allgemeinen Floskel heutiger Prägung wird in der Städtischen Galerie nachgezeichnet, mit Dokumenten, Bildern, Porträtbüsten und Karikaturen inszeniert.
Bewusst haben sich die Ausstellungsmacher um Professor Stiegemann und Professor Matthias Wemhoff (Museum Kaiserpfalz) von der gängigen Praxis abgewandt, Ausstellungen an Herrschern, Dynastien, den Jahrestagen ihrer Lebens- oder Regierungsdaten »aufzuhängen«. Mit einem Vortrag über die Verbindung zwischen Canossa und Mozarts fruchtbaren Paderborner Exiljahren drehten sie kurz vorm ersten April der gutgeölten Jubiläums-Industrie sogar eine freche Nase. Dass sie »Canossa« als Chiffre einer ereignisorientierten Schau wählten, mag ein kleines Wagnis sein, wenn man bedenkt, dass noch bei einer Salierausstellung in Speyer 1992 auch die Wissenschaftler jenen heiklen Bußgang aussparten, wie Professor Stiegemann sich erinnert. Paderborn aber hat sich dem Gang nach Canossa angeschlossen; vergessen ist die Furcht vor dem negativen Klang. Die Kombination aus kostbaren Leihgaben und lebendigen Inszenierungen scheint populär genug, um auf zahlreiche Besucher zu hoffen, und die Stadt richtet sich auf ein richtiges Canossa-Jahr ein: Restaurants lassen sich zu Canossa- Speisen inspirieren, und schon jetzt wird im Schatten des Doms »offizieller Canossa-Wein« feilgeboten, kein italienisches Gewächs, sondern ein Pinot Noir aus Burgund: trinken wie die Cluniaszensermönche. Auf den König! Auf den Papst! //
»Canossa 1077 – Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik«, 21. Juli bis 5. November. Paderborn: Museum in der Kaiserpfalz, Erzbischöfliches Diözesanmuseum, Städtische Galerie Am Abdinghof. Tel.: 05251/88-29 88. www.canossa2006.de