TEXT HONKE RAMBOW
»Thomas Mann hat gesagt, es ginge beim Schreiben nicht um das Erfinden, sondern um das Finden. Darin kann ich mich total wiedererkennen.« Dass Alexander Kerlin, Dramaturg am manisch progressiven Dortmunder Schauspiel, ausgerechnet Mann zitiert, wenn es um seine Arbeitsweise geht, in der er »Mash-Up-Stücke« schreibt, überrascht zunächst. Zu erwarten wäre gewesen, dass er etwa Roland Barthes’ »Der Tod des Autors« von 1968 heranzieht, in dem Text als vieldimensionaler Raum, »in dem sich verschiedene Schreibweisen, von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen«, beschrieben wird. Und wo es weiter heißt: »Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.«
Barthes formulierte hier – in zwar kritisierter, aber durch die apodiktische Setzung zum Glaubensbekenntnis der Postmoderne gewordenen Form – etwas, das mit Sampling von HipHop und House in reinster Form künstlerische Praxis wurde. Der Bezug zwischen postmodernen und dekonstruktivistischen Ansätzen und der Clubmusik seit den 1980er Jahren wurde im philosophischen Diskurs überraschend selten reflektiert, ist umgekehrt aber etlichen Musikproduzenten durchaus bewusst.
»Sampler sind eine Art digitaler Fotoapparat für Klang, mit dem ich Ausschnitte beliebiger Größe von Tonaufnahmen machen kann, um die wiederum als Ausgangsmaterial für neue Musikwerke zu verwenden«, erklärt Hans Nieswandt, DJ, House-Produzent und Leiter des Instituts für populäre Musik (IFPOM) an der Folkwang Universität. »Die ersten Sampler kamen Anfang der 80er Jahre auf den Markt, waren extrem teuer und wurden nur von wenigen solventen Musikern wie Herbie Hancock und Paul Hardcastle benutzt. Bald setzte allerdings eine rapide Entwicklung ein, die die Geräte bezahlbar machte. Wichtig wurde Sampling dann zuerst vor allem für HipHop, weil es sich dabei immer schon um Musik handelte, die aus vorhandener Musik zusammengesetzt wurde. Das machte zunächst der DJ mit zwei oder mehr Plattenspielern, durch die Einführung von Samplern wurde es viel einfacher.«
Für die HipHop-Musiker war Sampling eine Möglichkeit, eigene Musik zu produzieren, auch wenn ein komplettes Studio und die dazugehörige Produktionsausstattung nicht finanzierbar waren. Darüber hinaus hat das Sample einen starken Verweischarakter, um mit oftmals rarem Material Bezüge in die Popmusik-Geschichte herzustellen. Gleiches gilt wenig später auch für die aufkommende House-Musik. Der heute in Berlin lebende Maler Sven Drühl arbeitete während seines Studiums in Essen im legendären House-Club »Rote Liebe«. Dort sieht er einen wesentlichen Ursprung seines Konzeptes: »Genauso wie DJs im Club Kraftwerk und Whitney Houston zusammenmixen, so setze ich in meinen Bildern Teile von Hodler oder Havekost zusammen und schaffe damit etwas Neues mit einer eigenen Handschrift.«
Drühls Bilder erfinden das oft totgesagte Genre der Landschaftsmalerei im Remix neu. Da türmt sich Caspar David Friedrichs Eismeer, weil aber davor eine Reihe Blumen von Hodler blühen und sich eine Tannengruppe dazwischenschiebt, wird es zum Bergmassiv. In der oft kruden Zusammenfügung einzelner Bildelemente entstehen neue fiktive, oftmals irritierende, perspektivisch schiefe Landschaften, die ganz Drühl sind, wenn sie auch ihre Quellen deutlich zeigen.
»Der Grund für diese Arbeitsweise ist, dass ich denke, dass das gesamte Material, mit dem ich als Künstler arbeiten kann, längst da ist. Ich muss nicht versuchen, etwas Neues zu erfinden, sondern das Neue entsteht durch die Komposition und Umdeutung des Bestehenden. Generell misstraue ich dem Diktat des Neuen, das verlangt, dass das Künstler-Genie allein in seinem Atelier nur aus sich selbst schöpft.«
Für das Theater formuliert es Kerlin ähnlich: »Die große Erzählung wurde von der Postmoderne als zu teleologisch, zu kongruent angezweifelt. Das ist auch der Grund, warum bereits seit den 1980ern Stücke aufgebrochen und zerstört wurden.« Eine Entwicklung, die sich gehalten hat und sich in den Sample-Texten von René Pollesch oder in Elfriede Jelineks »Wolkenheim«, das ausschließlich aus Fundstücken der deutschen Idealisten Fichte und Hegel besteht, fortsetzt.
Vergessen ist die in den 1980er Jahren heftig und mit religiösem Eifer unter Autoren geführte Auseinandersetzung, ob mit dem Computer und seinen Möglichkeiten von Copy/Paste überhaupt echte Literatur geschaffen werden könne. Nun ist gewiss: Der Computer hat eine andere Literatur kreiert; viele Texte wären an der Schreibmaschine wohl nie oder zumindest anders geschrieben worden.
Was bei ihnen noch, im Gegensatz zu anderen samplen-
den Theatermachern, hinzu komme, sagt Kerlin, sei, »dass wir das alles live machen und damit einem DJ-Team sehr ähnlich sind. Da führen wir die gesammelten Samples jeden Abend neu zusammen und können direkt auf Situationen und Stimmungen auf der Bühne und im Publikum reagieren. Wir befreien uns von der Zwangsjacke der Kausalität.«
Was aber bringt das dem Betrachter? Anders als bei einem geschlossenen und ihm zumindest ansatzweise bekannten Stücktext, begibt er sich in den exzessiven Inszenierungen von Kay Voges auf gänzlich unbekanntes Gebiet. Die Versatzstücke können ihm Anhaltspunkte geben, von denen aus sich das Ganze erschließen lässt. Kerlin spricht davon, dass an den Rissen und Schnitten, wo die Samples aneinanderstoßen, sich die Lücke befinde, durch die die Zuschauer in die Welt des Stücks eindringen könnten.
Die Frage nach der Legitimität des Verfahrens ist nicht zu vermeiden. Am heftigsten wurden und werden Rechtsstreitigkeiten um Sampling in der Popmusik ausgetragen. In den USA gebe es allerdings den Begriff des »fair use«, erklärt Nieswandt, der dann gegeben sei, wenn die Kopie nicht so weit geht, dass sie die Anschaffung des Originals ersetzen würde. Im Deutschen sind die Begriffe Urheber oder Schöpfer bei genauer Betrachtung ungenau in ihrer Definition von Autorschaft. Es wird eben nicht etwas Neues geschaffen, sondern etwas gehoben oder geschöpft, das bereits vorhanden war.
Um den Anschein von Plagiat zu vermeiden, legen die Dortmunder in Inszenierungen wie »Das goldene Zeitalter« oder »Borderline Prozession« die Quellen des benutzten Materials direkt während der Vorstellung offen, um »nicht als von Guttenberg zu enden« (Kerlin). Doch auch in der wissenschaftlichen Arbeit ist Sampling nicht generell suspekt, solange die Quelle genannt wird und aus der Kombination der Samples ein eigener Gedanke entsteht. Kerlin hofft jedoch noch auf einen weiteren Effekt: dass sich durch die oft zeitversetzte Quellenangabe über die Laufzeit des Stücks untergründige Vernetzungen ergeben. »Die Herkunft des Gedankens ist auch Teil der Poesie des Gedankens. Dass etwas ein Zitat ist, schafft auch Bilder beim Zuschauer, der seine eigene Geschichte mit Nietzsche oder mit David Bowie hat.«
Auch Sven Drühl nennt die Quellen seiner Samples, wenngleich etwas verschlüsselt. Die Titel seiner Bilder setzen sich stets aus den Initialen der benutzten Künstler zusammen. Oftmals ergeben sich daraus schier endlose Reihen von Buchstaben, die sich wohl nur noch dem Kenner total erschließen. Für die elektronische Musik hält Nieswandt den Zenit der Technik überschritten. Es würde zwar immer noch gesampelt, aber die Möglichkeiten der Bearbeitung seien bei den modernen Samplern so weitgreifend geworden, dass das Sample nur noch als akustisches Material funktioniere und über eine diffuse popmusikalische Aura hinaus meist nicht mehr erkennbar sei.
Für den »Mash-Up«-Autor Kerlin und den Remix-Maler Drühl ist die Methode aber noch nicht ausgereizt. Es gebe zwar auch noch den Maler, der naiv ein Dreieck malt und glaubt, er sei damit der allererste gewesen. Für sich selbst stellt Drühl jedoch fest: »Ich bin definitiv ein Kind der Postmoderne. In den 1990ern, in denen ich studiert habe, hat man halt Foucault, Baudrillard, Lyotard rauf- und runtergebetet. In diesem gedanklichen Raum bin ich sozialisiert; als dann noch die Clubkultur dazu kam, bei der das alles in einem hedonistischen Umfeld durchexerziert wurde, hat mich das so geprägt, dass ich das vermutlich bis ans Ende meiner Tage so machen werde.« Glaubt man Roland Barthes, haben Künstler ohnehin keine andere Möglichkeit.