Auf halber Strecke zwischen Bielefeld und Paderborn, am Rande des heute rund 30.000 Einwohner zählenden Städtchens Schloß Holte-Stukenbrock, hatte die NS-Diktatur 1941 das größte der insgesamt 222 sogenannten Stammlager für Kriegsgefangene auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches eingerichtet: Mehr als 300.000 sowjetische Soldat*innen wurden in den knapp vier Jahren bis Kriegsende durch »Stalag 326 VI K« geschleust. Weitere 10.000 kamen aus anderen europäischen Nationen, vor allem Frankreich und Italien, Polen und Serbien. Die Ankunft in der ostwestfälischen Senne verlief für alle gleich: Sie wurden in einem eigens dafür errichteten Gebäude »entlaust«. Die menschenunwürdige Prozedur umfasste eine Vollrasur des Kopfes und die »Behandlung« des ganzen Körpers mit chemischen Keulen. Regelmäßig kam es dabei zu körperlichen Übergriffen des Personals gegen die Insassen, oft auch zu sexualisierter Gewalt.
Anschließend wurden die allermeisten – nach mehr oder weniger kurzer Unterbringung im Stammlager selbst – als Zwangsarbeiter*innen in Landwirtschaft und Industrie eingesetzt; letzteres vor allem im Ruhrgebiet. Die Lagerleitung hielt in Stukenbrock selbst stets ein Kontingent von etwa 4000 Kriegsgefangenen vor, die je nach Bedarf in Arbeitskommandos zum Einsatz kamen. Nur rund 500 waren im Lager selbst beschäftigt, in Küche oder Bauunterhaltung – und auf dem nahe gelegenen Friedhof. In dessen Massengräbern werden heute bis zu 65.000 Opfer des unmenschlichen Zwangsarbeitersystems vermutet. »Die genauen Zahlen kennen wir nicht, bislang sind erst 15.000 Personen identifiziert«, sagt Oliver Nickel, der Leiter und gleichzeitig einzige hauptamtliche Mitarbeiter in der heutigen »Gedenkstätte Stalag 326«.
Nach der Befreiung durch die amerikanische Armee im April 1945 übernahm die britische Armee das Lager und brachte deutsche Kriegsgefangene sowie inhaftierte Nationalsozialisten auf dem insgesamt 40 Hektar großen Gelände unter. Ab 1948 dann diente es unter dem Namen »Sozialwerk Stukenbrock« gut zwei Jahrzehnte als Auffanglager für zigtausend Heimatvertriebene aus den deutschen Ostgebieten. Seit 1970 schließlich unterhält die Polizei NRW hier ein eigenes Bildungszentrum. So haben sich über die Jahrzehnte vier inhaltliche Zeitschichten auf dem Gelände abgelagert.
1996 wurde nach langem Ringen eine Dokumentationsstätte eingerichtet, die seitdem unter mehr oder weniger prekären Bedingungen die Erinnerung am Ort wachhält. Neben Oliver Nickel sind noch drei 450-Euro-Kräfte beschäftigt; weite Teile der Erinnerungs- und Vermittlungsarbeit, aber auch der Bauunterhaltung werden bis heute von freiwilligen Aktivist*innen geleistet; rund 2000 Ehrenamtsstunden kommen pro Jahr zusammen. Die Öffnungszeiten des kleinen Museums und seiner riesigen Dokumentensammlung mit allein einer halben Million Personalkarten von Kriegsgefangenen aus der gesamten Region waren schon vor der Pandemie arg begrenzt – ausgerechnet am Wochenende kann man die Gedenkstätte gar nicht besuchen, weil die Pforte der Polizeischule und damit der einzige Zugang zum Gelände dann nicht besetzt ist. Im Schnitt kamen bisher rund 3500 Besucher*innen – pro Jahr.
Die grundsätzliche Neuorientierung verdanken Oliver Nickel und seine Mitstreiter*innen im seit Jahrzehnten enorm rührigen Förderverein Stalag 326 vermutlich Joachim Gauck. Der damalige Bundespräsident besuchte zum 70. Jahrestag des Kriegsendes im Mai 2015 Lager und Friedhof, traf Überlebende und Angehörige von Opfern, aber vor allem hielt er eine eindringliche Rede. Aus der blieb eine Formulierung besonders im Gedächtnis: Das grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland sei hier nie richtig ins Bewusstsein gekommen und liege in einem »Erinnerungsschatten«. Dieses Wort nahm der ebenfalls aus der Region stammende Landtagspräsident André Kuper zum Anlass, um nach zahlreichen Vorgesprächen und Sondierungen zwei Jahre später einen Lenkungskreis einzurichten. In dem sollten alle maßgeblichen Akteur*innen der Region und der Landespolitik mit Expert*innen für Erinnerungskultur den lange Zeit vergeblich angemahnten Ausbau von Gedenkstätte und Dokumentationszentrum voranbringen. 2019 gaben der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und das Land NRW ein Entwicklungskonzept sowie eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. Auf deren Grundlage beschlossen Bund und Land ein Jahr später, jeweils 25 Millionen Euro für den Um- und Neubau bereit zu stellen. Im Oktober 2021 sicherte dann auch der LWL selbst 10 Millionen Euro für das »neue« Stalag 326 zu.
Zunächst muss eine räumliche Trennung zwischen Polizeischule und Gedenkstätte aus dem Gelände geschaffen werden, samt jeweils eigener Zuwegungen. Für die künftige Dauerausstellung ist ein Neubau mit gut 5000 Quadratmetern Gesamtfläche geplant. Von der ursprünglichen Lagerbebauung sind heute nur noch die »Entlausung« und eine Arrestbaracke in originalem Zustand. In letzterer sitzt die bisherige Dokumentationsstätte. Sie und die übrigen Bestandsbauten sollen umfangreich saniert, die Umrisse möglichst vieler früherer Baracken auf dem heute meist überwachsenen Boden wieder sichtbar werden. Das ambitionierte Ziel lautet, den Besucher*innen alle vier Zeitschichten des Geländes zu vermitteln, vom Kriegsgefangenen- über das Vertriebenenlager bis zur Polizeischule. Gleichzeitig wird ein neues Leitmotiv der Erinnerung etabliert: »Das Lager wurde überall gemacht«. Denn die insgesamt über 300.000 Lagerinsass*innen zwischen 1941 und 1945 blieben ja nicht etwa in den Baracken der Senne verborgen, sondern waren als Zwangsarbeiter*innen überall im Land für jede und jeden sichtbar. In den Großbetrieben von Kohle und Stahl, in der Landwirtschaft und im Straßenbau, als Hilfskräfte in Handwerk und Handel: Die Verschleppten vor allem aus Russland gehörten während des Zweiten Weltkrieges zur Lebenswirklichkeit der deutschen Bevölkerung. Den nach Kriegsende allfälligen Satz »Davon haben wir doch nichts gewusst« soll die Gedenkstätte für jede*n erkennbar als das entlarven, was er immer war: eine Lüge.
Ein Unterfangen dieser Größenordnung – konzeptionell auf der Höhe der Zeit und angemessen ausgestattet – kostet Geld. Aktuell rechnen der federführende LWL und seine Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger neben den 60 Millionen Investitionssumme mit jährlichen Ausgaben in Höhe von 5,6 Millionen Euro. »Eine Gedenkstätte dieser Größenordnung erfordert Personal: Für den täglichen Betrieb, Verwaltung, Bildung und Vermittlung, Depots, Datenbanken und Forschung. Gerne wird ja die Instandhaltung der Gebäude vergessen, aber das haben wir alles mitkalkuliert«, zählt die erfahrene Landesrätin und frühere Herner Museumchefin die größten Posten auf. Und ergänzt: »Wir wollen da von vornherein niemandem Sand in die Augen streuen – das kostet eben.« Der Landschaftsverband hat beschlossen, etwas mehr als die Hälfte der jährlichen Summe zu übernehmen, weitere 20 Prozent sind vom Land NRW zugesichert. Das verbleibende Viertel sollen laut Grundsatzbeschluss die umliegenden Kommunen tragen: Die Kreise Gütersloh und Paderborn, die Stadt Bielefeld und auch Schloß Holte-Stukenbrock selbst. Erst wenn die Parlamente aller beteiligten Körperschaften zugestimmt haben, kann eine gemeinsame Stiftung gegründet werden, die künftig als Träger des Gedenkortes fungieren soll. »Ich bin optimistisch, dass das noch im Laufe dieses Jahres gelingen wird«, sagt Rüschoff-Parzinger.
Eröffnung zum Ende des Jahrzehnts
Sorgen ums Geld macht sich auch eine andere Gruppe: 29 Gedenkstätten und Erinnerungsorte in NRW mit direktem Bezug zur NS-Zeit sind in einem Arbeitskreis zusammengeschlossen. Da äußert die eine oder andere Führungskraft im vertraulichen Gespräch schon mal Skepsis, vor allem in einer Frage: Wird die Förderung eines völlig neu aufgestellten und enorm vergrößerten Stalag 326 durch die Landesregierung ohne Folgen für die Zuschüsse an bestehende Einrichtungen bleiben? »Ich sehe es als meine Aufgabe an, dass das nicht passiert«, zeigt sich der Vorsitzende des Arbeitskreises Dr. Stefan Mühlhofer, selbst Direktor des Dortmunder Stadtarchivs, ziemlich entschlossen. »Das kann ich garantieren«, antwortet sogar Klaus Kaiser, der Parlamentarische Staatssekretär im zuständigen Kulturministerium, auf Nachfrage. »Auch deshalb haben wir für Stalag 326 einen eigenen Haushaltstitel eingerichtet, damit die Verteilung der Mittel für alle nachvollziehbar bleibt.«
Kaiser ist wie Mühlhofer und Rüschoff-Parzinger Teil des Lenkungskreis um Landtagspräsident André Kuper. Dort sehen sie die Chance, durch Stalag 326 die Erinnerungskultur in NRW auf eine neue Ebene zu heben. Bislang existiert hier kein Gedenkort dieser Dimension, zumal es sich sogar um das größte Lager für Kriegsgefangene aus der ehemaligen Sowjetunion auf deutschem Boden handelt. Nicht nur für die Nachfahren der einstigen Insassen in den Staaten des heutigen Russlands, aber auch in Georgien und der Ukraine(!) könnte Stukenbrock zu einem einmaligen Ort der Erinnerung wie des Trauerns werden. Entsprechend optimistisch sind die Prognosen von Machbarkeitsstudie und Entwicklungskonzept: Auf Basis der Daten vergleichbarer Stätten sei mit 200.000 Besucher*innen pro Jahr zu rechnen. Ob diese Zahl wirklich zu erreichen ist, wird sich allerdings erst gegen Ende des Jahrzehnts herausstellen. Vor 2027 rechnet keine*r der Beteiligten mit einer Eröffnung des »neuen« Stalag 326; vielen gilt das Jahr 2030 als realistisches Ziel. Sollten sich die großen Hoffnungen dann erfüllen, hätte Joachim Gaucks eindringliche Rede von 2015 späte, aber umso nachhaltigere Konsequenzen gehabt – und eine zutiefst europäische Erinnerung tatsächlich aus dem Schatten ans Licht geholt.