TEXT: HANNES KRAUSS
Warum lässt man sich als Jungautor auf ein Thema ein, das leicht zur literarischen Garnierung tagesaktueller Krisen misslingen kann? Neugierig macht auch, wieso einer nach dem Magister-Abschluss in Geschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft als Familientherapeut arbeitet. Wir treffen uns an einem grauen Apriltag im Berliner Café Goldberg. Dort wird das neue Neukölln dem alten Kreuzberg immer ähnlicher: lebendig, unkompliziert, multikulturell und noch nicht von der Hauptstadtschickeria okkupiert. Reh kommt mit dem Fahrrad – ein freundlicher, aufmerksamer Mensch, der seine Ansichten ruhig, aber bestimmt vertritt. Drei Stunden später hat man einiges gelernt: über die Welt, wie Reh sie sieht – und über eine junge Gegenwartsliteratur, die abseits des Leipziger Literaturinstituts gedeiht.
Reh, 1974 in Duisburg geboren, studierte (mit einem Zwischenspiel in Wien) in Bochum, jobbte als Betreuer in der Stadtranderholung (und als Schließer und Hausmeister im Duisburger Stadttheater); später war er Einzelfallhelfer für straffällige Jugendliche. Aus privaten Gründen zog er vor einigen Jahren mit Frau und kleiner Tochter nach Berlin. Neben seiner Betreuer-Tätigkeit hatte er sich zum ›systemischen Therapeuten‹ ausbilden lassen. Jetzt arbeitet er für einen privaten Träger als Familientherapeut, will seine volle Stundenzahl aber, sagt er, reduzieren, um mehr Zeit fürs Schreiben zu finden. Mit dem habe er begonnen aus Interesse »an Menschen und an dem, was sie erleben«; mit Sechzehn entstanden die ersten Gedichte, später wechselte er zur Prosa (für die er 2004 und 2008 mit dem Förderpreis zum Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet wurde).
Die Frage nach dem Einfluss seiner täglichen Arbeit auf das Schreiben liegt nahe. Einen direkten Zusammenhang allerdings sieht Reh nicht. Wenn seine Klienten herausfänden, dass er auch Schriftsteller sei, reagierten sie auf das Versprechen, nicht über sie zu schreiben, mitunter sogar enttäuscht. Zwar seien Neugier und Interesse an anderen Menschen und deren Problemen Antrieb sowohl für das Schreiben als auch für die »aufsuchende Arbeit« im Brotberuf. Dort müsse man aber permanent Sicherheit vorspiegeln, während man als Autor riskieren dürfe, unsicher zu sein, die Antwort nicht zu kennen.
SECHS SICHTWEISEN
Derlei Unsicherheit erlaubt er sich in »Gibraltar« zur Genüge und fordert seinen Lesern so konzentrierte Mitarbeit ab. Die Ereignisse um den Spekulanten Bernhard Milbrandt und den Untergang des Bankhauses Alberts im Frühjahr 2010 werden aus unterschiedlichen Perspektiven und auch nicht chronologisch erzählt. Sechs Sichtweisen konfrontieren uns mit sechs völlig verschiedenen Charakteren: Milbrandt, seiner Stieftochter Valerie und seiner Frau Carmen, dem Seniorchef der Bank (Johann Alberts), seiner Frau Helene und seinem Sohn Thomas. Mit seinem überschaubaren Personal, das in wechselnden Konstellationen und unterschiedlichen Rollen mit- und gegeneinander agiert, erinnert der Roman an ein Theaterstück, an eine Folge kammerspielartig verdichteter Szenen. Gelegentlich wirken die Arrangements zwar ein bisschen angestrengt (besonders wenn der Zufall ins Spiel kommt), befördern aber so den kriminalistischen Spürsinn aufmerksamer Leser (die beispielsweise eine Wieder-Begegnung mit dem Protagonisten aus »Falscher Frühling« – hier in der Rolle eines in Bayreuth scheiternden Regisseurs – goutieren können).
Bei der Suche nach Ursachen und Hintergründen jener Finanzmarkt-Katastrophen, die uns aus den Nachrichten vertraut sind und die hier noch einmal außerordentlich anschaulich geschildert werden, versagt der Spürsinn allerdings. Am Ende des Romans ist die Bank pleite und der Seniorchef tot, Beziehungen sind zerbrochen und der Spekulant erhält mildernde Umstände – alles wie im wirklichen Leben. Am normalsten in diesem verrückten Gegenwarts-Theater erscheinen die junge Valerie – (geheilte?) ehemalige Psychiatrie-Patientin und (gescheiterte?) Studentin – und der entschlussarme Bankiers-Sohn Thomas – der seinen Mitmenschen mittels telefonischer Beratung den Umgang mit ihren missglückten Biografien erleichtert.
ELEGANZ DER DARSTELLUNG
Sascha Reh sieht als seinen Schreibantrieb, »das Ding mit der Wahrheit in den Griff bekommen« zu wollen. Räumt aber gleich ein, sich mit der »Suche nach einer plausiblen Erklärung, warum es die Wahrheit nicht gibt« zu begnügen. Auch die plausiblen Erklärungen muss jeder Leser für sich selbst finden. Der Autor unterstützt ihn allenfalls mit präzise geschilderten Alltagssituationen, Miniaturen zwischenmenschlicher Kommunikation in unterschiedlichen Lebenslagen: in der Bank und im Bett, in noblen Villen und spanischen Bauruinen, im Auto, im Flugzeug und beim Leichenschmaus. Reh ist ein Meister im Entwurf solch kleiner Szenen; sein Talent, unterschiedliche Sprachebenen stilsicher zu nutzen, kommt ihm dabei zu Gute. Mag auch die Handlungskonstruktion mitunter anstrengend sein – die Originalität der Charaktere und die präzise Eleganz ihrer Darstellung machen das wett und animieren zum Weiterlesen.
So gelassen und angenehm wie sein Schreibstil ist das Gespräch mit dem Autor über seine Texte: Auf Fragen und Einwände reagiert er offen und direkt – mal zustimmend, mal widersprechend. Er bekennt sich zur Lust am Arrangement von Figuren, an der Inszenierung von Konflikten, versteht Schreiben als Mittel, Blicke in Welten zu werfen, zu denen er üblicherweise keinen Zugang hat. Als Quellen dienen ihm Zeitungsartikel und Bücher, gezielte Gespräche und zufällig Aufgeschnapptes. »Gibraltar« ist kein Schlüsselroman; es ist ein Konstrukt (»ich denke mir Dinge aus und packe sie in eine Handlung«), eine Art Versuchsanordnung, mit der weder etwas bewiesen noch widerlegt werden soll. Das Aufeinandertreffen der Figuren und ihrer Wahrheiten bleibt Spiel, das Ergebnis offen.
Die Namen der literarischen Vorbilder, die Reh am Ende unseres Gesprächs nennt (Mario Vargas Llosa, Thomas Pynchon, David Forster Wallace, aber auch Joseph Roth), klingen aus seinem Mund weder größenwahnsinnig noch überheblich. Er ist selbstkritisch und klug genug, um zu wissen, dass er (noch) in einer anderen Liga spielt. Das muss ja nicht heißen, sich mit dem Erreichten zufrieden zu geben. Zur Zeit arbeitet er an einer Filmversion des Romans, den man sich in dieser Transformation gut vorstellen kann, nicht nur wegen der Schauplätze. Reh zweifelt noch, ob das gelingen wird. Derlei Skepsis äußert er genauso beiläufig wie die Feststellung, Drehbucharbeit sei eine »Charakterschule«, weil einen das Filmgeschäft mit Menschen zusammen bringe, die uneitel mit Ideen umgingen.
Sascha Reh: »Gibraltar«; Schöffling, Frankfurt/M. 2013, 461 Seiten, 22,95 Euro
Lesungen: am 15. Mai um 19:30 Uhr in der Kölner Maternus-Buchhandlung und am 16. Mai um 19:30 Uhr in der Essener Heinrich-Heine-Buchhandlung.