// All das mag gut gewesen sein, fruchtbar: der tiefe und schwere Himmel, die raue Landschaft des Teufelsmoors, die ungespreizte Menschlichkeit der Bauern, das einfache und einsame Leben in Worpswede – und natürlich die Künstler, von denen sich hier so viele niedergelassen hatten, dass man fast ehrfürchtig von der »Künstlerkolonie Worpswede« zu sprechen begann, damals, anfangs des letzten Jahrhunderts, als die »Lebensreform«- und Jugendbewegungen eben all das propagierten: Gemeinschaft, Einfachheit, Naturerleben. Als Wundermittel gegen das Müdesein an der Welt und ihren technischen Fortschritten, das sich im Fin-de-Siècle zu pompöser Dekadenz-Attitüde, zur Nervenkrise, zum grundsätzlichen Überdruss an der Moderne verdichtet hatte.
Deswegen mag all das hier gut gewesen sein: Eine Zeit lang. Denn die sehr junge und vitale, äußerst unruhige Malerin Paula Becker (1876-1907), die mit ihrem weit älteren Mann Otto Modersohn Teil dieser Künstlerkolonie war, wollte nicht ihr ganzes Leben in Gefühlsduselei und verträumter Landschaftsandacht verbringen. Ganz anders, als die aus Dresden stammende Künstlerin so gerne dargestellt wird: als reines, überaus schwärmerisch-sentimentales Seelchen, hat sie nach dem Éclat gesucht, nach dem Nervenkitzel, nach der großen weiten Welt. Nach Größe in der Einfachheit, nach einer Wucht und Härte in der malerischen Form, die unter dem Naturfreunde-Himmel Worpswedes, in den guten Stuben der Kolonisten nicht zu haben war.
Jene losgelöste Überzeitlichkeit und monumentalisierte Wesenhaftigkeit in der Darstellung der Dinge und Menschen, um die es ihr ging, ließ sich beim besten Willen hier nicht beschwören. Allein in der Stadt, dies fand die Malerin bald heraus, würde sie auf dem Wege dorthin vorankommen, allein in Paris, dem zentralen Schauplatz der modernen Kunst. Denn »eine Stadt ist dies Paris ja doch«, wie die junge Malerin mit verräterischem Understatement während ihres ersten längeren Aufenthaltes in der Seine-Metropole im Jahr 1900 notiert, womit sie natürlich nichts anderes sagen will als: Hier allein spielt die Musik. Erst recht für Künstler, die nach neuem, modernem Ausdruck suchen, um dem dargestellten Menschen möglichst »nahe zu kommen« und ihn gleichsam in seinem »Grundriss festzunageln.« Bis zu ihrem frühen Tod wird Paula Modersohn-Becker mehrfach hierhin zurückkehren. Um Anregungen in den Museen und Galerien zu suchen, im welthaltigen Treiben der Metropole. Damit fangen einerseits ihre privaten Konflikte an, die schließlich in einer großen Lebens- und Ehekrise kulminieren. Anderseits aber beginnt damit die atemberaubende künstlerische Entwicklung ihres Spätwerks, die sie zu einem funkelnden Solitär in der deutschen Kunst der Moderne am Anfang des 20. Jahrhunderts werden lässt. Zu einem Pfadfinder. Zu einer wirklich epochalen Erscheinung.
In Paris hat die aus Worpswede Geflohene ungemein rasch den Anschluss gefunden an die neuesten Entwicklungen und, vielleicht sogar parallel zu den ganz großen Helden der Moderne von den Nabis bis zu den Fauves, vielleicht sogar parallel zum Giganten Picasso, an ähnlichen Themen und Problemen gearbeitet. Mit jenem in ihren Werken, den Bildnissen vor allem, immer stärker hervortretenden Zug zur Vereinfachung der Form, zur Flächenhaftigkeit und Monumentalität, zur Abkehr von Illusionismus und Raumhaltigkeit, zur Steigerung des Ausdrucks der Farben und ihrer kühnen Loslösung vom Bildgegenstand, lässt sie die Worpsweder Malerei, auch diejenige ihres Mannes, weit hinter sich und reiht sich ein in die Kreise der Pariser Avantgarde, wo allmählich das Feld bereitet wird für den die Malerei so grundlegend revolutionierenden Auftritt des Kubismus.
Neben der Begegnung mit den neuesten Entwicklungen in der Pariser Schule vermitteln ihr die Aufenthalte in der französischen Metropole eine andere eminente, ungemein inspirierende, die junge Künstlerin geradezu elektrisierende Bekanntschaft, eine Begegnung über Jahrtausende, über Epochen und Kulturen hinweg: Die mit den altägyptischen Mumienporträts während ihrer zweiten Paris-Reise 1903. Bei ihren täglichen Streifzügen durch die Sammlungen des Louvre – man kann dabei ohne Übertreibung von Wallfahrten sprechen – ist sie in einem Saal der ägyptischen Abteilung auf diese bemalten Holztafeln aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten gestoßen, die man, damals wie heute, nicht anders denn als Sensation, als erregendes Spektakel erleben kann.
Handelt es sich doch bei diesen so mirakulös anmutenden, fast zwei Jahrtausende lang im Wüstensand konservierten Grabbeigaben für die Angehörigen der Oberschicht in der Region Fayum um die ersten erhaltenen, nun ja: bürgerlichen Bildnisse überhaupt. Und außerdem um die einzigen Beispiele antiker Tafelmalerei, die auf uns gekommen sind. Aber mehr noch, weit frappierender noch: In der gelassenen Ungerührtheit, ja Entrücktheit der Porträtierten, mit der diese uns anblicken oder eiskalt an uns vorbeiblicken, in der starren, ikonenhaften Frontalität der so lebensecht geschilderten Gesichter, die ungemein nah an den Bildvordergrund gerückt sind und fast die Ränder der Tafeln sprengen – im völligen Verzicht auf Decorum und Erzählung wirken diese uralten Porträtgemälde zugleich so modern wie die modernsten Bildnisse, die damals in den Pariser Ateliers entstanden.
So modern wie: die Bildnisse und Selbstbildnisse Paula Modersohn-Beckers. Diese gehören zum wertvollsten Kern ihres künstlerischen Wirkens in den großen Jahren zwischen 1903 und 1907, vielleicht sogar zum Kanon der stärksten Gemälde überhaupt, die damals geschaffen werden. Wie die rastlos und ehrgeizig, fieberhaft ihre künstlerische Entwicklung vorantreibende Paula Modersohn-Becker die Mumienporträts als analoge Erscheinungen zu ihren eigenen formalen Ambitionen entdeckt und in Auseinandersetzung mit diesen Werken Mut und Anregung findet, um ihr Schaffen weiter zu radikalisieren, wie diese Schnappschüsse aus dem Totenreich und die Selbstbefragungen der einsamen Malerin aus der Aufbruchszeit der Moderne als Doppelgänger, als Blutsverwandte frappieren – das lässt die herausragende Ausstellung des Museum Ludwig vorzüglich erleben.
Erstmals überhaupt sind in dieser Schau, die zum 100. Todestag der Malerin vom Paula Modersohn-Becker-Museum (Bremen) erarbeitet wurde, Beispiele der altägyptischen Mumienporträts zusammen mit Werken der Deutschen versammelt, um dieses so faszinierende Kapitel künstlerischer Rezeption zu durchleuchten. Man hat aus der heute bekannten Menge von insgesamt etwa eintausend Mumienporträts größtenteils zwar nicht genau jene Exemplare auswählen können, welche die Malerin im Louvre (oder in Reproduktionen) tatsächlich gesehen haben mochte – die hier gezeigten Arbeiten stammen überwiegend aus anderen Sammlungen –, dafür jedoch sind nun in Köln alle Bildnisse der Modersohn-Becker vertreten, die unübersehbar im engeren und engsten Zusammenhang mit den Anregungen durch die Mumienporträts entstanden, darunter die Inkunabeln dieses Dialogs: Die späten Selbstbildnisse mit der Zitrone bzw. mit dem Kamelienzweig, aber auch das berühmte Porträt Rainer Maria Rilkes mit dem ägyptisch anmutenden »Pharaonenbart« und jenes Werner Sombarts mit den blutroten, wie vom Dolch gezogenen Konturen.
Insgesamt rund 50 Porträts sind hier zum grandiosen Maskenreigen versammelt, die rätselhaften Bildnisse aus den ägyptischen Gräbern, die meist junge, höchst lebendige Menschen darstellen und doch wohl allein für Tote geschaffen wurden, und die Selbstporträts einer Frühverstorbenen, die sich, trotz aller Jugend und Tatkraft, von allem Weltlichen und Zeitlichen entrückt malt, als sähe sie uns an aus dem Schattenreich des Todes. Die »große Einfachheit der Form«, den Ausweg aus dem impressionistischen, neo-impressionistischen Dilemma, hat Paula Modersohn-Becker hier gefunden: in den Bildern von stummen, tief in sich versunkenen Menschen aus lange versunkener Zeit.
Museum Ludwig, Köln, 15. März bis 15. Juni 2008. Katalog im Hirmer-Verlag 29 €. Tel.: 0221/221-26165. www.museenkoeln.de/museum-ludwig