Als im Juli 2003 das Ruhrgebiet als erste von allen am Titel »Europa-Kulturhauptstadt 2010« interessierten deutschen Gebietskörperschaften den Finger hochriss, da kam Vielen dies reflexhaft und präpotent vor: Das Revier mit seinen Identitäts- und Finanzproblemen bewarb sich halt dauernd um irgendwas (kurz davor war es Olympia gewesen), und die Bewerbung an sich sah einfach zu strukturwandlungsschaumig aus. Hinzu kam ein Formfehler (das Ruhrgebiet ist halt keine Stadt, nur ein solche darf sich bewerben), und begleitet war der Auftritt mit den für die »Städtestadt« notorischen interkommunalen Konkurrenzen und Eifersüchteleien.
Doch dann passierte das Unerwartete. Der Formfehler wurde ausgebügelt, Essen wurde (gegen Bochum) als Bewerberstadt gekürt und hatte, ein absolutes Novum, auf einmal alle anderen Revierstädte hinter sich. Die Bewerbung selbst aber, wie ein Gesicht, das die Pubertät abstreift, gewann von Monat zu Monat an Ernsthaftigkeit und Originalität, ein einigender Schwung erfasste Politik, Wirtschaft, Regionalpresse und Öffentlichkeit. Begeisterung aber verleiht Charme. So war es fast selbstverständlich, dass »Essen/Ruhrgebiet« bei der NRW-internen Ausscheidung im Mai 2004 Köln und Münster überflügelte, und als die Kandidatin ein Jahr später auch sämtliche deutschen Mitkonkurrentinnen aus dem Feld schlug (darunter Kaliber wie Bremen und Potsdam), war nicht nur der Jubel groß, sondern auch das Kopfnicken: Ja, der Kulturhauptstadtsplan des Ruhrgebiets hat was. Da wird nicht nur ein Reigen schöner neuer Veranstaltungen versprochen.
Sondern dem Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt könnte 2010 (sowie in den Jahren bis dahin) tatsächlich der Beweis gelingen, dass Kultur in all ihren Facetten eine gewisse Goldgräberstimmung entfachen kann. Das Ruhrgebiet könnte dies beweisen, weil es dies in den vergangenen Jahrzehnten schon vielfach bewiesen hat.
Der Schriftsteller Adolf Muschg, Mitglied der bundesdeutschen Bewertungskommission, hat dies, (in der Zeit) vom Jury-Besuch im Revier berichtend, so beschrieben: »Eine ganze Landschaft enthüllte sich in drei Stunden als Bühne eines umfassenden Trauerspiels, dessen Besetzung – unscheinbar oder spektakulär – den Untergang verweigerte. Wo immer wir hinkamen, waren Häuser, Siedlungen, Industriedenkmäler mit dem Umlernen im größten Stil beschäftigt, und die neue Sprache war nicht nur diejenige einer spezialisierten ›Kultur‹: Sie schlug Brücken über den ebenso monumentalen wie unvermeidlichen Bruch mit der industriellen Vergangenheit. Was die Zeit schon abgeschrieben hatte, war ihr, als urbanistische Avantgarde, plötzlich wieder voraus. Das ehemalige Revier atmete nicht mehr Staub, sondern Zukunft.« Die Absprache sah für die deutschen Bundesorgane vor, zwei Nominierte nach Brüssel zu melden: Also kürte die Jury auch das ostdeutsche Görlitz mit seiner polnischen Schwesterstadt Zgorzelec, setzte allerdings die Ruhrstadt eindeutig voran. Diese Abstufung wurde bei der Weiter- gabe der Kandidaten an EU-Rat und -Parlament nivelliert, so dass die dritte und letzte Bewerbungs-Kommission nun frei zwischen Essen und Görlitz entscheidet. Frei? Nirgendwo wird in den Lobbys stärker gedrängelt als in Brüssel und Straßburg; es wird von den Persönlichkeiten der Euro-Jury abhängen, ob sie sich einflüstern lassen, welche Präferenzen sie haben: Ob sie lieber symbolisch die europäische Altwunde heilen (Görlitz) oder die europäischen Zukunftsprobleme (Ruhrgebiet) in den Blick nehmen wollen. Ob sie wieder ein Städtchen oder eine ganze Region prämieren.
Die sieben Jurymitglieder werden vom Europäischen Parlament, vom Rat, von der Kommission (je zwei) sowie vom Ausschuss der Regionen benannt. Derzeit ist unklar, ob auch diese Jury die Kandidatinnen besuchen fährt; fest steht nur, dass am 15. März die Präsentation der Bewerberinnen in Brüssel stattfindet: je eine halbe Stunde lang.
Wenige Tage danach wird die Jury ihre (veröffentlichte) Empfehlung an Parlament, Rat und Kommission Europas geben. Diese drei entscheiden; doch da davon auszugehen ist, dass sie ihren eigenen Beratern folgen, werden wir wohl im April wissen, wer 2010 Kulturhauptstadt wird.
Hat Essen Görlitz zu fürchten? Politisch gesehen ja, sachlich betrachtet nein. Schon die deutsche Jury hatte genau begriffen, dass im Ruhrgebiet Kultur eine urbane Dimension bekommen hat, sie dabei ist, so etwas wie städtisches Bewusstsein zu erzeugen, wo es bislang genau daran mangelte. Und dass sich dies in der Bewerbung widerspiegelt, jedoch mit ihr nicht erst erfunden wurde. IBA Emscherpark, RuhrTriennale, Klavierfestival Ruhr, Extra- Schicht und ein paar anderen ist gelungen, wozu weder Verwaltungen noch Verkehrsbetriebe fähig waren: eine neue Ebene über das zersplitterte Ruhrgebiet zu legen, die an keiner Stadt- oder Regierungsbezirksgrenze Halt macht. Populär ausgedrückt: Kultur macht im Revier ein Wir-Gefühl.
Noch immer schwirren in den permanent neuen Essener Bewerbungsbroschüren formlose Absichtsballons und pseudoanalytische Marketingknaller in Projekthimmelhöhen.
Auf der Erde aber konkretisiert sich schon so viel, dass sich die Umrisse der Kulturhauptstadt Essen/ Ruhrgebiet erkennen lassen. Sie wird vor allem eines sein: polyzentral, im guten Sinne verwirrend, der Struktur des Ruhrgebiets angemessen. Aber vernetzter als bisher und diese Vernetzung als Bewegung inszenierend. Fünf »Hot spots« werden die Besucher – Berechnungen prognostizieren drei bis vier Millionen – im Jahre 2010 empfangen: Landschaftspark Duisburg-Nord, Gasometer Oberhausen, Jahrhunderthalle Bochum, Phoenix West in Dortmund und als Drehscheibe mitten drin die Essener Zeche Zollverein.
Diese fünf und weitere Standpunkte werden durch Routen (ÖPNV, Straßen, Boote, Shuttles) verbunden, wobei es Prinzip sein soll, das Dazwischen zum »Ereignis« zu machen. Das »Leitprojekt« »B1_21st« etwa will die A40/ B1 zwischen Duisburg und Dortmund selbst zum »Ausstellungsraum« machen. Ob dabei mehr herauskommt als die Verhübschung von Ruhrschnellwegsbrücken, hängt vom Ideenreichtum der Planungsgruppe aus Künstlern, Stadtentwicklern und Kulturwissenschaftlern ab – nicht unentscheidend ist, dass fast alle Projekte durch interdisziplinäre Symposien und Teams ins Grundsätzliche gehoben werden (bzw. schon wurden), dass es, soweit erkennbar, nirgendwo um Events geht. Nicht unentscheidend ist auch, dass die traditionellen Akteure mehr und mehr hinzutreten: So zeigt sich in diesem Fall die Landesstraßenbauverwaltung willig, eine Autobahn als Inszenierungsort zu akzeptieren. Auf deren Spuren dann Bewegung, Entfernung, Fülle der Orte vielleicht auf neue Art erfahrbar werden – von Kunsttankstellen (Aral macht mit) und einem speziellen B1-Radio ist da die Rede.
Nun kann sich – »eng ist die Welt, doch das Gehirn ist weit« –, wer mag, viel ausdenken. Das viele hundert Kilometer lange Gewimmel der Bergbaustollen, das dem »Revier « die Ausdehnung vorgab, diese zweite, unsichtbare Stadt unter dem Ruhrgebiet auf irgendeine Art sichtbar zu machen, das etwa klang von Anfang an großartig. Wer allerdings das sogenannte Bergrecht (das auch für stillgelegte Zechen gilt) sowie die Besuchern gegenüber restriktive Haltung der Deutschen Steinkohle AG (DSK) kannte, hatte seine Zweifel, ob sich dieses Kulturhauptstadtsvorzeigeprojekt überhaupt verwirklichen ließe. Jedoch, sieh an, auch hier hat der Zauber der Bewerbung die Starre gelöst (vielleicht weil DSK-Mutter RAG Hauptsponsor ist): Eine DSK-Studie hat nun die Machbarkeit sowie Finanzierbarkeit des Untertage-Transports von etwa 100.000 Besuchern im Hauptstadtjahr errechnet; mehr noch, auf einmal ist nicht nur von der Abwärtsreise in den Schacht Zollverein die Rede, sondern auch von der in zwei weitere Revierzechen. Unten wird es dann allerdings kein Besucherbergwerk geben, sondern künstlerische Installationen, die im Gelingensfalle die ungeheure Dimension des vertikalen und horizontalen Raumes erlebbar machen; bislang sind die Namen der Künstler Jenny Holzer sowie James Turell im Gespräch.
Die »Zweite Stadt« wird – hoffentlich – spektakulär; das Projekt »Land for free« hingegen setzt auf die Kulturrevolution der hundert blühenden Blumen. Ab 2007 – sofern der Titel im April errungen wird – soll eine Ideenblütenpracht das Nordruhrgebiet einfärben, dann wird knapp die Hälfte der 80 Kilometer langen »Emscherinsel«, des Landstreifens zwischen Emscher und Rhein-Herne- Kanal, sukzessive in Claims aufgeteilt und kostenlos an kreative »Siedlungspioniere« abgegeben. Neue temporäre oder dauerhafte Bewohner sind zu erwarten: Wandertheater, Freiberufler, Eremiten, (Kunst-)Handwerker, Wasserliebhaber und Kreative aller Couleur, die durch einen europaweiten Aufruf an einen Fluss gelockt werden, dessen Renaturierung in vollem Gange ist. Einer der Pläne, diee belegen, dass die Kulturhauptstadtsentwickler den urbanistischen Ansatz ihrer Bewerbung ernst meinen, denn das postindustrielle »Land über«, die Unmengen undefinierter Flächen sind für diese Region prägend.
Zehn Leitprojekte kennt die Bewerbung bisher (und hat sie bereits sehr weit geplant), vom interkulturellen Austausch mit Partnerstädtebewohnern und Migranten- Communitys (»Twins«; »Melez«-Festival) über eher herkömmliche Ausstellungen (»Schwerkraft«) bis hin zu tollkühnen Projekten wie dem »Fliegenden Rathaus« als Ausdruck der »informellen Stadt« Ruhrgebiet. Darum herum wimmelt es von großen und kleinen, vielfach originellen »Akupunkturen«, also kulturellen Eingriffsplänen.
Bemerkenswert ist, wie stark die Bewerbung von Bürgern und Wirtschaft der Region ideell und finanziell unterstützt wird – auch sonst eher kulturferne Gruppen ziehen mit am Strang; knapp neun Millionen Euro Sponsorengelder sind bereits zugesagt.
Jetzt fehlt nur noch eines: der Titel. Doch selbst wenn der wider Erwarten am Ruhrpott vorbeigeht, durch die Bewerbung selbst hat sich schon so viel in die richtige Richtung bewegt, dass der Schaden zu verkraften wäre. Solang man weiterhin den Untergang verweigert. //