INTERVIEW: ULRICH DEUTER
K.WEST: In der westlichen Kultur versteht man unter Kalligrafie so etwas wie Schön-Schreiben: die stilvolle Gestaltung lesbarer Ornamente. Wir besitzen aber eine Ahnung, dass Kalligrafie – hitsuzendô – in Ihrer Kultur ganz etwas anderes bedeutet. Sie kennen beide Kulturen, Ost wie West: Können Sie uns verständlich machen, was man unter der Kunst des »Zen-Wegs mit dem Pinsel« versteht?
SASAKI GENSÔ RÔSHI: Einen Pinsel mit sumi (Tusche) zu durchtränken, einen Punkt auf weißes Papier zu setzen, eine Linie und eine Form zu zeichnen – durch diese Hand-lungen richtest du deine Haltung auf, vertiefst deinen Atem und kultivierst deinen Geist, deine Energie (ki). Allmählich wird dein wahres Selbst fähig werden, frei auf dem weißen Papier zu tanzen, während es die Qualitäten des Pinsels ganz erfasst. Ein durchgehendes Wissen über die Beschaffenheit des Pinsels zu haben ist nicht anders, als zu deinem wahren Selbst zu erwachen.
»Verwende nicht deine Hand, sondern nimm den Pinsel in die Hand, um zu schreiben.« Wenn du das kannst, entfaltet sich gewissermaßen die Liebe zwischen dir und dem Pinsel, zwischen Tusche und Papier, die Liebe zu allem. Dasselbe kann auch für die Beziehung zwischen einem Schneidebrett und einem Messer gelten, zwischen einem Menschen und dem Universum. Dein Le-ben ist ein unaufhörlicher Prozess der Entfaltung. Dieser Prozess besteht darin, eine Gemeinschaft der Liebe mit den Menschen, denen du begegnest, zu errichten, mit allen fühlenden Wesen – eine Welt der Freiheit entfalten. Wir versuchen, das Licht, das von Buddha ausstrahlt, auf dem Papier zu zeigen; deshalb heißt unsere Kalligrafie hitsuzendô: der Zen-Weg mit dem Pinsel.
K.WEST: Oft sieht man in der Kalligrafie den Kreis. Aber mir scheint, dieser Kreis ist oft nicht geschlossen. Warum ist das so?
SASAKI RÔSHI: Der allen Wesen innewohnende Wert ist formlos und ungreifbar und damit unbeschreibbar; deshalb verkörpern wir ihn in einem Kreis (enso). Da wir einen »endlosen Kreis« zeichnen, um das Ganze zu verkörpern, geht er über die Vorstellung von »offen« oder »geschlossen« hinaus; deshalb ist es egal, ob der Kreis offen ist oder geschlossen. Er ist offen, während er geschlossen ist, und umgekehrt. Wir können sagen, dass der Kreis ganz offen ist oder ganz geschlossen. Die Welt ist endlose Weite und undenkbar tief.
K.WEST: Man sagt, das Schwerste bei hitsuzendô sei nicht der Kreis, sondern der Punkt, weil er ausdehnungslos sei. Wie kann man etwas malen, was keine Dimension besitzt?
SASAKI RÔSHI: Das ist eine sehr konkrete und sehr gute Frage. In der Kalligrafie ist jedes der vier Materialien (Pinsel, Tusche, Tusche-stein und Papier) wesentlich, aber der Pinsel ist besonders entscheidend. Seine Qualität liegt in seinen Haaren, die anders sind als jene der europäischen Pinsel. Der Pinsel, den ich etwa für die Ruhrtriennale verwendet habe, besteht aus sanften Pferdehaaren; sein Umfang ist 5 Zentimeter, seine Länge 16 Zentimeter. Es braucht lange Übung, um ihn frei verwenden zu können.
In der Geometrie wird der Punkt als Position ohne Ausdehnung definiert. In der Kalligrafie hingegen hat der Punkt eine freie Ausdehnung. Am Anfang wird der Pinsel senkrecht und fest auf das Papier gesetzt; man kann den Anfangspunkt nicht wiederholen, genauso wie man nichts im Leben wiederholen kann. Einmalig entsteht ein lebendiger Punkt. Wenn die Spitze des Pinsels sich auch nur ein wenig in eine andere Richtung bewegt, ist es nicht ein Punkt, sondern eine Linie. Kaum bewegt sich der Punkt, wird er zur Linie, und von denen gibt es unerschöpfliche Variationen; der Kreis ist eine davon. Der letzte Punkt, der auf das Blatt gesetzt wird, ist zugleich ein Anfangspunkt der nächsten Kalligrafie. Somit enthält der letzte Punkt eine Bewegung hin zum nächsten formlosen Punkt hin. Zwischen diesen Punkten, die nicht durch eine sichtbare Linie verbunden sind, besteht eine diskontinuierliche Kontinuität. Wir sehen, ein Punkt besteht aus seiner sichtbaren und seiner unsichtbaren Linie. In der täglichen Übung wird unsere Fähigkeit, unsichtbare Linien zu sehen, entwickelt. Der Punkt ist die Grundlage, der Ursprung und das Schwierigste. Im Vergleich dazu ist es viel einfacher, eine Linie zu schreiben. Im Drama des hitsuzendô wird alles großartig, wenn der erste Punkt gelingt. Um einen vollen und bebenden Punkt zu machen, müssen die Hand, die den Pinsel hält, und der Mensch, dem die Hand gehört, erwacht sein. Das genau ist der Grund, weshalb die Darbietung vor Publikum in der japanischen Teezeremonie und in den Kampfkünsten otemae (»vor Menschen seinen Punkt setzen«) genannt wird.
K.WEST: Gibt es Chancen des Verstehens zwischen zwei so unterschiedlich strukturierten Kulturen? Verstehen Sie die westliche Kultur, die westliche Kunst? Können wir die östliche, die japanische, die Zen-Kultur jemals verstehen?
SASAKI RÔSHI: Verstehen beginnt in dem Moment, in dem du einem außergewöhnlichen Menschen und seinem Werk begegnest, wenn du von ihnen getroffen und erschüttert wirst. Griechische Skulpturen, griechische Tragödien, Sokrates und die vorsokratischen Philosophen, die Bibel, J. S. Bach, Shakespeare, Chartres, der Kölner Dom und viele andere, sie alle haben mich sehr bewegt. Welch mächtiges Gewicht der Geschichte! Konfuzius sagte einst: »Diejenigen, die die Wahrheit lieben, sind besser als die, die sie kennen.« Wenn du dein Herz mit tiefer Lie-be öffnest, dann kannst du jeden Menschen, jedes menschliche Werk und jede Kultur verstehen, ja, das ganze Universum. Gerade weil Sie so eine reiche Kultur und Geschichte haben, können Sie mit Sicherheit auch die asiatische Kultur und die japanische Zenkultur verstehen. Goethe sagte: »Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.« Es ist notwendig, sich um ein Verständnis anderer Kulturen zu bemühen, um sowohl die eigene Kultur tiefer zu verstehen als auch andere.
K.WEST: Welche westliche Kunst oder Philosophie ist dem Zen, der Leere, am nächsten gekommen?
SASAKI RÔSHI: Ich bin von vielen großen Kunstwerken ergriffen worden, von der griechischen Antike bis in die Gegenwart. Mei-ne Intuition sagt mir, dass all diese Künstler zumindest in ihren Werken die wesentliche Erkenntnis erlangt haben, die im Buddhismus durch die folgenden Worte ausgedrückt wird: »Form ist Leere, Leere ist Form.« Als Beispiele kann ich alle Werke von Leonardo da Vinci nennen, Rembrandts Radierungen wie etwa »Die drei Bäume«, Cézannes »La Montagne Sainte-Victoire« und seine Aquarellmalerei sowie Kandinskys Spätwerk. Ich trage sie alle tief in mir.
In der Philosophie spüre ich eine besondere Affinität zu den vorsokratischen Denkern, zum Sprechen und Handeln von Jesus, zu Meister Eckhart, zu Nietzsche, vor allem zu »Zarathustra«; und zu Schopenhauer, der großen Einfluss auf Nietzsches Ideen hatte.
K.WEST: Ist Erleuchtung das erstrebenswerte Ziel für den, der sich dem Zen widmet? Und wenn ja, was ist Erleuchtung: eine Metapher? Oder ein anderer Zustand des Bewusstseins und des Wissens?
SASAKI RÔSHI: Dem Wort Erleuchtung haftet etwas Ungewöhnliches, Seltsames und zutiefst Mysteriöses an, sodass es leicht mit einer übernatürlichen Kraft assoziiert wird. Menschen neigen dazu, es durch vorgefasste Ansichten oder falsche Bilder verstehen zu wollen. Es ist schwierig, seine Bedeutung zu beschreiben, aber ich würde dafür den Ausdruck »Erwachen« wählen. Vom Standpunkt des Zen aus betrachtet, bezieht sich das Gebot von Delphi – »Erkenne dich Selbst« –, auf das Sokrates in seinen Dialogen oft verweist, nicht auf den Intellekt, sondern auf das Selbsterwachen, das unmittelbar körperlich und geistig erfahren wird.
Erleuchtung bedeutet zur Leerheit zu erwachen, und diese wiederum bedeutet, dass alle Dinge leer sind, frei von einer inhärenten Existenz. Sie äußert sich im unerschütterlichen Vertrauen, dass die Wahr-heit deiner Erfahrung eins ist mit der Wahrheit der großen Zenmeister, die die religiösen Lehren seit Gautama Buddha und Bodhidharma weitergereicht haben. Die formlose und ungreifbare Leerheit ist aber kein Ziel unserer Übung. Sobald du darauf zielst, machst du aus der Leerheit etwas, das du Leerheit nennst. Das ist ein grundlegender Irrtum, eine Illusion. Das wahre Erwachen ist keine Metapher, sondern die fundamentale Realität, die du in deinem Leben erfährst.
K.WEST: Das Zentrum des Zen ist Shunyata, die große Leere. Vielleicht ist schon Zentrum das falsche Wort. Wie vermeide ich aber, dass das Erreichen der Leere nicht zum Verlust des Mitgefühls und der Freude am Leben führt?
SASAKI RÔSHI: Die Leerheit ist die Grundlage des Zen. Wenn wir die Leerheit erfahren und zu ihr erwachen, wird das Wesen der großen Weisheit und des großen Mitgefühls nie mehr verloren gehen, selbst dann nicht, wenn das Universum zerstört und zu nichts wird, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Ich möchte Ihnen zuletzt ein Gedicht des großen Meisters Chôsa Keishin zeigen. Während er zur Mönchsgemeinschaft sprach, sagte er:
Das ganze Universum,
in alle zehn Richtungen,
ist dein Auge.
Das ganze Universum,
in alle zehn Richtungen,
ist deine Sprache.
Das ganze Universum,
in alle zehn Richtungen,
ist dein ganzer Körper.
Das ganze Universum,
in alle zehn Richtungen,
ist das Leuchten deines Wesens.
Das ganze Universum,
in alle zehn Richtungen,
verweilt im Leuchten deines Wesens.
Im ganzen Universum,
in alle zehn Richtungen,
gibt es nicht eine Person,
die nicht dein Wesen ist.
Die Leerheit, die Chôsa zum Ausdruck bringt, ist keine Metapher, sondern die grundlegende Wirklichkeit.
»Schnee in einer Silberschale.« Elf Kalligrafien von Sasaki Gensô Rôshi, Jahrhunderthalle Bochum, 27. Aug. bis 9. Okt. 2011, jeweils vor den Vorstellungen. Vortrag des Zen-Meisters über Kalligrafie 29. Aug., 20 Uhr, Jahrhunderthalle.