// Am Ende des Films »Pina Bausch« aus dem Jahr 2006 sagt die Tanztheaterchefin: »Wir haben alles gegeben. Wir haben uns nie geschont. Wir haben noch viele Pläne.« Und, nach einer kurzen Pause: »Ich habe schon sehr viele Frühlinge gesehen und ich möchte noch viele sehen.«
Drei sollten es noch werden.
Ende Juni dieses Jahres war das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch zu den letzten Gastspielen vor den Theaterferien aufgebrochen: nach Wrocław (Breslau), Spoleto, Moskau. Eigentlich hatte Pina Bausch auch mit dabei sein wollen, wie immer. Aber sie fühlte sich elend und müde, sie sagte die Teilnahme an der Tournee ab. Alle schoben ihren Zustand auf die große Anstrengung der Probenarbeit zu ihrem letzten Stück. Es hatte am 12. Juni Uraufführung.
Es war Dienstag, der 30. Juni. Am Abend sollte die dritte und letzte Vorstellung von »Néfes« im Opernhaus von Wrocław stattfinden. Gegen Mittag erfuhren die Mitglieder des Tanztheaters, dass Pina Bausch am Morgen in Wuppertal gestorben war.
Schnell war klar, dass trotz des Schocks die Vorstellung am Abend nicht abgesagt werden würde. Die Tänzerinnen und Tänzer wollten tanzen. Für Pina Bausch. Alle wussten: Es wäre ihr Wunsch gewesen. Cornelia Albrecht, die als Geschäftsführerin des Tanztheaters die Tournee begleitet hat: »Es war ein unvergessliches Ereignis und Erlebnis, wie diese wunderbare Kompanie getanzt hat nach dem großen Verlust«. Das sei nicht nur in Wrocław so gewesen, sondern auch in Spoleto und Moskau.
Dominique Mercy, Protagonist der ersten Stunde und enger künstlerischer Mitarbeiter von Pina Bausch, beschwört denn auch diesen Zusammenhalt der Kompanie: »Wir haben sofort nach Pinas Tod bewiesen, dass wir stark und in der Lage sind, das Werk von Pina Bausch weiterleben zu lassen.«
Weiterleben lassen … Wie könnte das aussehen? Pina Bausch hat kein Testament hinterlassen. Ihr Sohn Salomon Bausch, studierter Jurist, ist Alleinerbe sowohl des Vermögens, als auch der Urheberrechte ihres Œuvres. Die Stadt Wuppertal ist nach Pina Bauschs Tod alleiniger Gesellschafter der Tanztheater-GmbH.
Schnell hat Salomon Bausch den Plan, den seine Mutter noch zu Lebzeiten gefasst hatte, umgesetzt: Er gründete die »Pina Bausch Stiftung«, zur »verantwortlichen Verwaltung und Weitergabe des künstlerischen Vermächtnisses seiner Mutter«. An der Spitze steht Salomon Bausch zusammen mit seinem Vater, Ronald Kay, Lebensgefährte von Pina Bausch. Im Beirat werden neben dem rechtlichen und steuerlichen Berater von Pina Bausch, Joachim Schmidt-Hermesdorf, die beiden Tänzer Dominique Mercy und Lutz Förster sein. Diese beiden »ältesten Mitglieder des Tanztheaters Wuppertal und jahrzehntelange Weggefährten von Pina Bausch, werden unerlässlich sein zur sinnvollen Erhaltung und Fortführung des umfangreichen Nachlasses«, heißt es im Text der Stiftung. Und weiter: »Ihre Erfahrung, ihr Sachverstand und ihre genaue Kenntnis des Werkes werden den Geist des Tanztheaters in die Stiftung tragen.«
Lutz Förster ist seit einigen Jahren Professor für Zeitgenössischen Tanz und Beauftragter für den Studiengang Tanz an der Folkwang-Hochschule in Essen. So wäre es logisch, wenn Dominique Mercy – vielleicht zusammen mit Robert Sturm, dem langjährigen Dramaturgen von Pina Bausch – kommissarisch die künstlerische Leitung des Tanztheaters übernehmen würde. Aber auch Bühnenbildner Peter Pabst, enger Vertrauter von Pina Bausch seit 29 Jahren, wäre für diese Aufgabe denkbar. Denn eines ist im Moment sicher: Die Arbeit des Tanztheaters wird in den nächsten zwei bis drei Jahren weitergehen. Es sind Spielplan- und Gastspiel-Verpflichtungen und Verträge in Wuppertal und in aller Welt einzuhalten und Pläne von Pina Bausch umzusetzen. Das bestätigt nicht nur Geschäftsführerin Cornelia Albrecht, sondern auch nachdrücklich Wuppertals Kulturdezernent Matthias Nocke. Wie genau diese Arbeit organisiert wird, wer sie künstlerisch leitet, dazu wollte sich noch niemand konkret äußern. Gespräche wird es erst nach den Theaterferien und nach dem offiziellen Abschied von Pina Bausch im Wuppertaler Opernhaus am 4. September geben.
Dass es Tänzer (oder Tänzerinnen) der Bausch-Kompanie sein werden, die sich aktiv darum kümmern, dass »das, was Pina Bausch hinterlassen hat, weiterlebt und so lange wie möglich weiter gezeigt wird« (Dominique Mercy), ist ganz im Sinne von Pina Bausch. Für sie war es immer sehr wichtig, dass (fast) alle Stücke (es sind über 40), die sie seit Beginn ihrer Arbeit in Wuppertal in den 70er Jahren herausgebracht hat, präsent bleiben. So gab es seit langem jedes Jahr eine Uraufführung, aber stets auch Wiederaufnahmen. Das betraf die frühen Stücke, die sich noch mit Gluck, Brecht, Weill, Strawinsky nach literarischen und musikalischen Vorlagen im traditionellen Rahmen hielten, gleichzeitig aber schon mit ungewöhnlich archaischer Kraft und visionären Bildern angefüllt waren: »Iphigenie«, »Orpheus und Eurydike«, »Die sieben Todsünden«, »Frühlingsopfer«.
Das waren aber auch die neuen Stücke ohne Vorlage. Sie erzählen nicht nur eine Geschichte, sondern viele kleine Geschichten von Liebe und Zärtlichkeit, von Einsamkeit und Unglück, vom Kampf der Geschlechter.
Das Neue entwickelte sich damals Schritt für Schritt. Die Tänzerinnen und Tänzer tanzten nicht nur – zeitweise tanzten sie immer weniger –, sondern sie benutzten auch die Sprache. Die Musik wurde nicht mehr live gespielt, sondern kam vom Band. Der erste Bühnenbildner Rolf Borzik (er starb 1980) bedeckte den Bühnenboden mit Erde, Wasser, Gras, auf der Bühne bewegten sich falsche Nilpferde und Krokodile oder echte Hunde, Artisten, Stuntmen, Zauberer. Zusammen mit bestimmten Stilprinzipien der Collage und Montage, mit Wiederholungen, simultanen Handlungen, szenischen Zuspitzungen ergab das eine eigenständige, neue Körper-Kunst-Theatersprache, die vor allem auch auf Schauspielregisseure großen Einfluss hatte. Alle Stücke bis heute sind durch Fragen entstanden, die Pina Bausch ihren Tänzern gestellt hat.
Die Proben zu den Wiedernahmen wurden immer von Tänzerinnen und Tänzern, die an den jeweiligen Produktionen direkt beteilt waren, betreut. Das waren vor allem Dominique Mercy, Jo Ann Endicott, Barbara Kaufmann und Bénédicte Billiet. Ihnen vertraute Pina Bausch. So hat Endicott zum Beispiel die Probenleitung für »Kontakthof mit Damen und Herren ab 65« (aus dem Jahr 1999) und im vorigen Jahr »Kontakthof mit Teenagern ab 14« übernommen. Sie selbst hatte 1978 eine Hauptrolle in diesem Stück getanzt. Es ist übrigens das einzige Stück, das mit Laien neu einstudiert wurde, weil es, wie Pina Bausch einmal gesagt hat, »ein einfaches Stück ist«.
Die Wiederaufnahmen in den letzten 20 Jahren wurden in aller Welt, auch in Wuppertal, mit stehenden Ovationen bejubelt. Die Uraufführungen derselben Stücke (und die weiteren Vorstellungen) in den 70er und auch noch 80er Jahren hatten anders ausgesehen: Bei einem Teil der Zuschauer schlug Unverständnis um in Aggression. Sie verließen türeknallend die Vorstellung, störten massiv durch Zwischenrufe, die manchmal zu tumultartigen Szenen im Zuschauerraum führten. Pina Bausch selbst wurde beschimpft und durch nächtliche anonyme Anrufe belästigt. Es gab eine Zeit, da ging sie nur in Begleitung ins Theater.
Zum künstlerischen Vermächtnis von Pina Bausch gehört laut Stiftung auch ein »öffentlich zugängliches Archiv, »das die wissenschaftliche Erforschung der Grundlagen des Tanztheaters und seiner historischen Entwicklung ermöglichen soll.« An diesem Archiv arbeiten seit über zwei Jahren Assistenten und ehemalige Tänzerinnen. Vor allem sichten und inventarisieren sie die Videos, die seit vielen Jahren von jeder Aufführung gemacht werden.
Um den Standort dieses Archivs gab es in den letzten Wochen ein bizarres Gezerre. NRW-Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff möchte es gern auf der Kunstinsel Hombroich dauerhaft lagern. Eine Idee, die schon der Kunstsammler und Insel-Gründer Karl-Heinrich
Müller hatte, der vor zwei Jahren starb. Grosse-Brockhoff war mit Pina Bausch zwei Wochen vor ihrem Tod dort, um ihr mögliche Räume zu zeigen. Es sei aber, so sagte er, zu keiner Entscheidung gekommen. Ganz anders erinnerte der Geschäftsführer der Museumsinsel, Wilhelm Petzold, das Gespräch in einem Zeitungs-Interview. Angeblich habe Pina Bausch klar erklärt, dass sie mit ihrem gesamten Nachlass nach Hombroich wolle. Die Empörung im Tanztheater bei Geschäftsführerin Cornelia Albrecht und Peter Pabst, die auf der Insel mit dabei waren, war groß. Das Wuppertaler Presseamt veröffentlichte sofort eine Gegendarstellung.
Die Gründung der Stiftung mit Sitz in Wuppertal gerade jetzt zu diesem Zeitpunkt ist wahrscheinlich eine Antwort auf die Standortfrage des Nachlasses. Pina Bausch hat immer wieder in vielen Gesprächen betont, dass sie gern in dieser Stadt lebe und arbeite. Weil Wuppertal keine Sonntags-, sondern eine Alltagsstadt sei. Und das sei wichtig für die Arbeit des Tanztheaters. Sie betonte: »Wuppertal ist die Heimat des Tanztheaters.«
Also wäre Wuppertal der einzig richtige Ort für die Bühnenbilder und Kostüme, die Videos, die Aufzeichnungen und Anweisungen zu den Stücken, die Presseartikel, die Fotos. Allerdings müsste die Stadt eine geeignete und attraktive Behausung für ein solches Bausch-Museum finden – leerstehende, zu renovierende Fabriken und Hallen gibt es genug in Wuppertal.
Und nach den zwei oder drei Jahren, wenn alle Verträge erfüllt sind? Es gibt Überlegungen, dann einen jüngeren Choreografen zu verpflichten, der die Kompanie im Sinne von Pina Bausch weiterführen, aber auch erneuern soll. Fraglich ist allerdings, ob ein Weiterführen möglich sein wird. Denn die Tänzerinnen und Tänzer sind im Laufe der langen Zeit und der gemeinsamen, schwierigen, »oft schmerzhaften« (Bausch) Arbeit mit Pina Bausch auf besondere Weise zusammengewachsen. »Das sind ja alles Perlen«, hat Pina Bausch einmal über ihre Tänzer gesagt. »Das ist keine normale Beziehung zwischen Pina und uns. Es ist eine tiefe Liebesbeziehung mit allen Höhen und Tiefen«, sagt die Tänzerin Ruth Amarante im Film »Pina Bausch«. Kann man das wiederholen? Und Nazareth Panadero erklärte an gleicher Stelle, dass sie mit 50 Jahren bestimmt längst aufgehört hätte zu tanzen, bei Pina Bausch aber dürfe und wolle sie weitermachen. Es stehen etliche Kompaniemitglieder im 50. Lebensjahrzehnt – kaum vorstellbar, dass sie unter einer neuen Leitung weiter tanzen. Und von den Jüngeren wird es bestimmt den einen oder anderen in neue Kompanien ziehen, irgendwo in der Welt.
Kulturdezernent Matthias Nocke will auf jeden Fall, auch nach der Ära Bausch, die Sparte Tanz in Wuppertal erhalten. Damit würde der große Wunsch von Pina Bausch erfüllt: Dass Wuppertal die Heimat des Tanzes bleibt. //