Interview: Andreas Wilink
// Überspitzt könnte man sagen, die Bitte »Veni, Creator Spiritus« habe sich erfüllt. Neuer schöpferischer Geist lässt im Revier Pfingsten sein. Insofern wäre es besser, von Willy Decker als Spiritus rector der Ruhrtriennale zu sprechen. Im Gelsenkirchener Büro des Intendanten steht eine matt golden glänzende Buddha-Figur, hängt die Zeichnung des Enso, also die Kreisform, die – in einem schwungvollen Pinselstrich gemalt – Leere und Vollendung symbolisiert. Ausgeführt hat sie Deckers Zen-Meister, von dessen Hand auch die neben der Tür hängende Kalligrafie stammt, deren vier Buchstaben-Zeichen »Alte Wege täglich neu« zu gehen auffordert. Man darf dem 1950 in Pulheim bei Köln geborenen Decker, dem von Amsterdam, Brüssel, Paris und Madrid bis Salzburg und Wien international beschäftigten Opernregisseur und dritten Triennale-Berufenen, glauben, wenn er als Quelle seiner Kreativität das Spirituelle benennt. Ebenso, dass er seine drei Festival-Jahre nicht »abwickeln« wolle, sondern als etwas begreife, das seine Kräfte konzentriert und absorbiert. Ein Beginn gemäß Goethescher »Hoffnungslust«, seit für Decker die Begegnung mit den Industriehallen – in der Duisburger Gebläsehalle hat er 2007 »Le vin herbé« inszeniert – »substanziell neu« gewesen sei. Dazu gehört für ihn die Erkenntnis, dass »das Thema Bewegung in den Hallen wichtig ist, dass die starre Perspektive des Guckkastens aufgelöst werden muss«. Sein Saison-Zyklus 2009–2011 trägt das Motto »Urmomente«. Das Programm will an die Wurzeln menschlichen Bewusstseins rühren und nach dem Urstoff unserer Existenz schürfen. Die Religion steht im Zentrum. //
K.WEST: Sind Sie ein gläubiger Mensch, Herr Decker?
DECKER: Das Wort Glaube ist ein missbrauchtes Wort, ich betrachte es extrem kritisch. Dass in unserer Sprache Glaube mit Religion gleichgesetzt wird, finde ich hoch problematisch. Es ging für mich nie darum, dass ein Faktum, ein Inhalt gesetzt wurde, an die ich hätte glauben sollen, ohne sie überprüfen zu können. Insofern bin ich kein gläubiger Mensch. Ich spreche lieber von Spiritualität – ich begebe mich mit großem Interesse in Bereiche, in denen sich Dinge erleben lassen, die über unser Alltagsbewusstsein hinausgehen.
K.WEST: Das Festival heißt »Urmomente« und findet diese in den drei Weltreligionen.
DECKER: Auch der Begriff Religion müsste präzisiert werden, wir lassen das gern unkommentiert oder unreflektiert stehen. Als Künstler geht es mir vor allem um Erlebnismöglichkeiten. Kunst ist das Instrument, um diese Felder zu betrachten und zu betreten.
K.WEST: Also eine Art Kunst-Religion? Sie deuten Religion und Liebe als »tragische Geschwister« und fügen die Kunst als weitere Schwester hinzu, die alle drei die »Tragödie der Worte« erleiden. Gibt es für sie Erlösung?
DECKER: Die kann es geben. Es gibt sie in diesen, schlagwortartig bezeichneten, Urmomenten. Sie geschehen im Erleben großer Kunst: vor einem Bild, in der Musik, wenn jemand spricht. Niemand von uns kann den Moment beschreiben, weil genau im Unsagbaren es passiert. Die Kunst kann Wegweiser da hinein sein. Keine der drei, Religion, Liebe, Kunst kann ohne die anderen bestehen.
K.WEST: Können Sie solch einen Moment nennen? Welches Kunstwerk hat für Sie eine derartige Erfahrung ausgelöst?
DECKER: Kafkas »Schloß«, das Erlebnis dieses Romans hat mich zu so einem Moment hingeführt. Nachdem ich den letzten Satz dieses Buches gelesen hatte, hat sich die Realität für mich fast aufgelöst. Ich bin für Stunden durch den Wald gelaufen, gewissermaßen in einem anderen Zustand.
K.WEST: Ein Initial dieser Art ist individuell. Unteilbar und nicht mitteilbar …
DECKER: Genau, Sprache ist da nicht das Medium der Vermittlung. Das Erlebnis ist auch nicht verifizierbar. Wenn ich an meinen Zen-Meister Sasaki Genso Roshi denke, der spricht sehr wenig, er sträubt sich regelrecht dagegen, manchmal sitzt er vor uns…
Prof. Willy Decker. Foto: Ursula Kaufmann