// Entstanden ist die Fotografie im geschlossenen Raum: in den chemischen Laboren von Tüftlern, die ab ungefähr 1800 die Lichtempfindlichkeit diverser Materialien testeten, um herauszufinden, wie sich das Bild der Wirklichkeit direkt, ohne Malerhand, festhalten ließe. Sobald dies gelungen war, seit Mitte des 19. Jahrhunderts aber drängte es die frisch erfundene Abbildtechnik auf die Straße, um dort das wirkliche, das lebende Leben einzufangen. Schon einer der ersten Versuche des Lichtbildpioniers Nicéphore Niepce von 1827 war ein schemenhafter Sehnsuchtsblick aus dem Fenster. Nadar (Félix Tournachon) war nicht nur einer der frühen Meister der sorgsam ausgeleuchteten Porträtfotografie, er verließ auch schon bald mit seinem Apparat das Studio, fotografierte die Katakomben von Paris und konterfeite 1858 die Stadt aus der Gondel einer Montgolfiere. Die Sehnsucht der Fotografie nach der Straße war ihr angeboren, doch blieb sie auch in freier Luft nur halb erfüllt: zu unhandlich waren die riesigen Kameras, zu lang die nötigen Belichtungszeiten. Ein Stück urbanen Lebens mit bewegten Menschen einfach herauszufotografieren, blieb lange unmöglich, auch das Draußen musste arrangiert sein. Gleichzeitig nahmen aufwändige Dekorationen Einzug in die Ateliers: Die Straße wurde zum Studio, das Studio zur Straße.
Street and Studio – nach wie vor sind sie die beiden Hauptproduktionsstätten und -weisen der Fotografie; »Street & Studio« heißt die Ausstellung im Museum Folkwang, die die Spannung zwischen diesen beiden Orten und Ansätzen durch die Jahrzehnte verfolgt. Auf die Anfänge dieser Polarität wirft sie (vielleicht aus pragmatischen Gründen) allerdings nur einen knappen Blick, beginnt da, wo die Erfindung kleiner Kameras mit kurzer Belichtungszeit den spontanen oder gar geheimen Blick ermöglichte: zur Jahrhundertwende, und dann ab den 1920er Jahren, als handliche Fotoapparate (Ermanox, Leica) mit bis dato unerhört lichtstarken Objektiven auf den Markt kamen. Es ist gewiss kein Zufall, dass parallel zur Entwicklung der Fotografie in Amerika und Europa die Städte zu Metropolen aufblühten – die Kamera wurde ihr Komplize, ihr Medium. »In hohem Maße hat die Fotografie unsere Vorstellung von der Stadt und ihren Menschen beeinflusst und sowohl unsere Vermutungen über das Nichterlebte als auch unser Interesse an den Sonderlingen und Freaks genährt«, schreibt die Leiterin der Fotografischen Sammlung des Folkwang-Museums, Ute Eskildsen, im Katalog. Die Kamera wurde der Flaneur für uns alle. Ihr meistgesehenes Sujet sind Clochards und schräge Existenzen.
Die Ausstellung – 13 Räume, gut 300 Exponate, 100 Künstler – ist einerseits historiografisch, andererseits thematisch organisiert: »Passanten« heißt dann etwa so ein Themenraum, zeigt 1946 von Walker Evans aus immer derselben Perspektive einer halb verborgenen Kamera aufgenommene vorbeihastende Arbeiter in Detroit; kontrastiert mit Joel Sternfelds 50 Jahre später dito auf der Straße, aber penibel arrangierten »Stranger Passing«-Motiven. Franz Bergers Diaprojektion mit der Abfolge ein und desselben Ausschnitts einer urbanen Szenerie passt hierzu, rangiert aber unter anderer Überschrift neben dem Lichtchirurgen Jeff Wall und seinen Leuchtbildkästen. Nicht erst im Zeitalter von Photoshop sind Arrangement und Dokument manchmal nicht zu unterscheiden; es ist allein schon der studiogeschulte Blick des Fotografen, der das Chaos der Wirklichkeit gestaltet; oder die schmutzige Wirklichkeit ins Studio holt, wo sie nur umso wirklicher erscheint (wie etwa in den »Großstadtnomaden«-Porträts von Andres Serrano, 1990).
Links: Erwin Blumenfeld: City Lights, 1946. © ADAGP, Paris und DACS, London 2008
Rechts: Francis Alÿs: Sleepers, 1999–2006, Mexico City, 1 of 80 35mm slides. © Francis Alÿs / Courtesy David Zwirner, New York
In der Abteilung »Realitäten und Illusionen« hat Irving Penn 1950 seine Pariser Straßenfeger und -händler unter Erhöhung ihrer Authentizität im Studio aufgestellt; zeigt Robert Doisneau seine atemberaubenden Straßenschnappschüsse aus den 40ern und 50ern, die in Wahrheit mit Schauspielern gestellt waren. Brassaï zog Nacht um Nacht durch Paris und brauchte seine traumrealen Situationen und Figuren wohl nicht zu arrangieren; auch Lisette Model fand ihre aufgetakelten Heruntergekommenen in San Francisco und sonst wo in Amerika vor. Eine ihrer Schülerinnen war Diane Arbus – sie fehlt so wenig in der Ausstellung wie Robert Frank, August Sander, Cecil Beaton, Otto Steinert, Helen Levitt, Robert Mapplethorpe, Malick Sidibé, Juergen Teller, Thomas Ruff, Timm Rautert, Valérie Jouve, Weegee oder Cindy Sherman. Deren »Bus Riders«, eine Arbeit von 1976, zeigt wie fast immer sie selbst in diversen Kostümen als Fahrgast, doch auf simplem Stuhl vor leerer Wand; passend hierzu der Gegenentwurf von Walker Evans, der 1938-41 mit verborgener Kamera »Subway Portraits« aufnimmt: lauter gedankenverlorene, nie lächelnde Frauengesichter. Während 2000 Wolfgang Tillmans Fahrgästen in Londoner U-Bahnen so nahe gerückt ist, dass meist nur Arme und Achselhöhlen sichtbar werden.
Street and Studio, das sind – noch einmal – die Hauptproduktionsstätten und -weisen der Fotografie. Weshalb diese, gemeinsam mit der Londoner Tate Modern entwickelte, Ausstellung in Wahrheit keinen Ausschnitt, sondern einen veritablen Überblick über 100 Jahre Fotografiegeschichte präsentiert – ein so schnell nicht wiederkehrendes Ereignis. In London erlebten es 100.000 Besucher. //
Bis 11. Januar 2009. Katalog 21 €. Tel.: 0201/88-45301. www.museum-folkwang.de