Es gibt zwei grundsätzliche Haltungen im Umgang mit Jugend: lassen oder lenken, zusehen oder zurechtweisen. Nach einer jahrzehntelangen Phase des Lassens (in der nicht ganz zufällig viel Jugend, im demografischen wie symbolischen Sinne, existierte) scheint seit geraumer Zeit das Lenken wieder angesagt – vielleicht weil das Gut Jugend knapp geworden und damit kostbar ist. Wobei der Schwenk vom einen zum anderen gesellschaftspolitisch nicht anders verlief als in einer durchschnittlich wurstelnden Familie: Lange Zeit hatten wir den Nachwuchs sich selbst überlassen und uns dabei liberal und fortschrittlich gedünkt. Dann hatten wir, weil Nachbars Sprösslinge irgendwie besser entwickelt schienen, mal wieder einen Blick ins Kinderzimmer geworfen und mussten entsetzt feststellen, dass dort Sodom und Gomorrha herrschen: Unsere Jugend kann nicht nur nichts (Pisa), sie neigt auch noch zu Rohheit und Gewalt (Emsdetten). Derzeit ziehen Reporter durch die Lande und stellen Schulleitern und Polizeivertretern immer wieder die besorgte Frage, was man gegen die steigende Jugendaggressivität unternehmen kann.
In der Tat zeigt die Kriminalstatistik, dass sich die Gewaltkriminalität unter Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden in den letzten 15 Jahren fast verdoppelt hat. In Nordrhein-Westfalen verübten im vorletzten Jahr junge Menschen zwischen acht und 21 Jahren 54 Prozent aller Körperverletzungen sowie 59 Prozent der Raubüberfälle – bei einem Bevölkerungsanteil von zirka 16 Prozent. In absoluten Zahlen: 2005 gerieten in NRW 7933 Jugendliche wegen gefährlicher oder schwerer Körperverletzung unter Tatverdacht, das bedeutet gegenüber 2004 eine Zunahme um 10,7 Prozent; bei der vorsätzlichen leichten Körperverletzung lagen die Zahlen bei 8116 und 4,3 Prozent Anstieg; Raub war in 2717 Fällen der Anlass für polizeiliche Ermittlung (Abnahme um 2,2 Prozent). Heranwachsende raubten im selben Zeitraum 945 mal und begingen 11.420 mal schwere oder vorsätzliche leichte Körperverletzung; wobei die Zunahme gegenüber dem Vorjahr 10,2 Prozent betrug.
Spektakuläre Geschehnisse wie die Amokläufe Jugendlicher in Erfurt 2002 und Emsdetten vor wenigen Wochen, die brutalen Übergriffe von Schülern auf Mitschüler in Münster und Bockenem 2005 oder die Ermordung eines Kindes durch einen 16-Jährigen in Berlin scheinen den erschreckenden Zahlen der Polizeistatistik recht zu geben. Tatsächlich jedoch bebildern sie keinen Sachverhalt, sondern lediglich unsere Angst: Wir wollen besorgt sein – vielleicht, weil wir zu lange unbesorgt waren. Als nach der Ausstrahlung des Fernsehspielfilms »Wut« (über den Rachefeldzug eines jungen Türken an einer »deutschen« Familie) am 29. September 2006 in der anschließenden Diskussionsrunde der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer die besorgten Diskutanten mehrmals darauf hinwies, dass die von Jugendlichen ausgeübte Gewalt, auch die auf Schulhöfen, in Wahrheit in den letzten Jahren nicht zugenommen habe, wollte ihn keiner hören. Unreflektiert wird, auch in seriösen Medien, nach wie vor unterstellt, dass eine Art Tsunami der Gewalt Kinder und Jugendliche erfasst hat.
Kriminologen wissen, dass das Gegenteil der Fall ist. Auch die von einem Gremium aus Soziologen, Psychologen, Vertretern des BKA und des Statistischen Bundesamtes erstellten »Periodischen Sicherheitsberichte« der Bundesregierung, deren zweiter Mitte November 2006 veröffentlicht wurde, stellen fest: Insgesamt nimmt seit vielen Jahren die kriminelle Gewalt in Deutschland kontinuierlich ab; nimmt die von Jugendlichen zumindest nicht zu. Die unbestreitbar angestiegene Statistikkurve im Falle von Jugenddelinquenz ist nämlich die Folge einer gestiegenen Anzeigebereitschaft, einer gesunkenen gesellschaftlichen Toleranz gegenüber Gewalt, auch der von Jugendlichen. Wenn man sich vor Augen hält, dass fast alle erwachsenen Gewalttäter früh angefangen haben, ist diese Entwicklung von erheblichem Belang.
Wie aber will man die Quantität nicht bekannt gewordener Taten kennen, wenn sie doch nicht bekannt geworden sind? Die Auflösung ist relativ einfach: Auch wenn es an kontinuierlichen Dunkelfelduntersuchungen zur Kriminalitätsentwicklung und Anzeigeverhalten (crime surveys) in Deutschland offenbar fehlt, Forscher wie Pfeiffer (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen) oder Klaus Boers (Institut für Kriminalwissenschaften der Uni Münster) haben in statistisch relevanten Befragungen von Schülern herausfinden können, wie das Verhältnis von geschehenen (beobachteten) zu polizeilich angezeigten Gewaltdelikten aussieht – dabei ergab sich, dass sich die Anzeigequote in den letzen zehn Jahren teilweise verdoppelt hat. Da Schulen (zumindest in NRW) zwar nicht verpflichtet sind, Gewaltvorfälle der Polizei zu melden, jedoch den Unfallkassen, führte ein Vergleich mit der Versicherungsstatistik zum selben Ergebnis: Die Gewalt unter Schülern steigt nicht. Sie sinkt.
Was offenbar aber nicht sinkt, ist die allgemeine Angst. So ergab eine repräsentative Umfrage von Infratest vor zwei Jahren, dass die meisten Deutschen das Ausmaß krimineller Delikte völlig fehl einschätzen: nämlich grotesk zu hoch. Die gefühlte Kriminalität liegt, vor allem bei schweren Delikten wie Raub oder Sexualmord, um mehrere hundert Prozent über der Wirklichkeit. Ob nun die Medien daran schuld sind, die immer reißerischer berichten, sei dahingestellt. Genauso wenig wie ein unmittelbarer Konnex zwischen dem exzessiven Genuss von Computerspielen wie »Counter Strike« und der Bereitschaft zum Amoklaufen konstruiert werden kann – obwohl die Täter von Erfurt wie Emsdetten Anhänger dieses Gewaltspiels waren.
Hart aber ist ein anderes Faktum: Delinquentes, strafrechtlich relevantes Verhalten bei (vor allem männlichen) Jugendlichen ist seit mehr als hundert Jahren in allen westlichen Ländern statistisch festzustellen. Dieses Verhalten nimmt aufgrund der sogenannten Reifungslücke, also der Diskrepanz zwischen immer früherer körperlicher Entwicklung und immer späterer sozialer Autonomie, zu. Und: pubertäres delinquentes Verhalten ist episodisch. Bei einem kleinen Teil jedoch nicht. Ein Kern von Intensivtätern (mit fünf und mehr Gewalttaten pro Jahr) ist gleichbleibend stark – und zeigt gleichbleibend deutliche ethnische Differenzen. Unter jungen Deutschen liegt er bei 2,9 Prozent, unter Aussiedlern bei 6, unter Jugendlichen mit jugoslawischem Hintergrund bei 8,3 und solchen mit türkischem Herkommen bei 10,3 Prozent. Bei diesen Gruppen spielt wohl weniger »Counter Strike« ein Rolle, als die erlebte Gewalt in der Familie sowie ein reichlich mit Gewalt gewürztes Männerbild.
»Im Säugetier verlieren sich abgrundtiefe Energien«, hat George Bataille irgendwo geschrieben; Gewalt wird aus der Conditio humana wohl nicht zu eliminieren sein. Umso wichtiger ist Gewaltprävention. Sie ist, sagt die im Düsseldorfer Innenministerium dafür zuständige Kriminaldirektorin Heidi Fahrenholz, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nicht vorrangig eine der Polizei – die hat, selbst im Rahmen ihrer Aufgabe der Gefahrenabwehr, nur dann Recht und Pflicht, tätig zu werden, wenn sie Kenntnis von einer geschehenen oder wahrscheinlich bevorstehenden Straftat erhält. Auf Bundesebene arbeitet seit 2001 das Deutsche Forum für Kriminalprävention, eine Stiftung der Bundesinnenministerkonferenz mit vor allem Tagungsveranstaltungskompetenz. Auf lokaler Ebene – gewiss wirkungsvoller – existieren (in NRW seit 1999) meist »Ordnungspartnerschaften« genannte Kooperationen zwischen verantwortlichen sozialen Akteuren: Schulen, Jugendämtern, Sozialarbeitern, Pfarrern oder Imamen sowie den Bezirksbeamten der Polizei, die gemeinsam be- oder entstehende Konflikte mit allen Beteiligten und nicht nur strafrechtlichen Mitteln zu lösen versuchen. Der Moscheevorbeter besitzt eben auch eine gewisse Kompetenz darin, Waffen von türkischen Jugendlichen einzusammeln – wie im Rahmen der Essen-Katernberger Ordnungspartnerschaft geschehen.
Zur Gewaltprävention der Polizei gehört auch, auf Informationsveranstaltungen diejenigen Schulen, die dies noch nötig haben, über Anti-Mobbing- (sogenannte Anti-Bullying-) Programme zu informieren. Oder nach der Tat von Emsdetten sämtliche Schulen des Landes zu einer »Kultur des Hinsehens« zu ermuntern, die »Anzeichen für einen möglichen Amoklauf« erkennen und weitergeben soll – so Innenminister Ingo Wolf (FDP). Woran man solche Anzeichen erkennt, weiß allerdings die Kriminaldirektorin Fahrenholz auch noch nicht. »Bisher zwei Fälle in Deutschland«, zuckt sie mit den Schultern und gibt zu verstehen, dass sich daraus bislang kein Profil möglicher Täter ableiten lasse.
Eine Szene, die sich um virtuelle oder Live-Gewaltspiele versammle und sich in Amoklaufphantasien ergehe, ist jedenfalls nach Auskunft der Polizei in NRW nicht erkennbar. Anlassunabhängige Internetüberwachung existiert nicht, man verlässt sich auf die Wachsamkeit der Bürger. (Die freilich von der Tatankündigung des Emsdettener Jugendlichen im Chat nichts weitergab.) Auch hat Jugend- und Familienminister Armin Laschet (CDU) wiederholt vor einer Verteufelung von Computerspielen gewarnt, die ein Teil der Jugendkultur seien; die Sorge um den Medienstandort NRW, wo drei große Computerspielproduzenten ansässig sind und um weitere geworben wird, ist dabei nicht ganz zu überhören.
Die Frage ist nicht, ob »Counter Strike«, »Doom« & Co. unmittelbar zu realer Gewalt führen, sondern, warum sie denn nicht Teil eines Ursachenensembles der Vorrohung sein sollten (wozu es im Übrigen eindeutige wissenschaftliche Untersuchungen gibt). Hingegen scheint es, dass Politik und Behörden vor dem Umstand kapituliert haben, dass Jugendliche und junge Erwachsene millionenfach ein scheinwirkliches Zweitleben führen, in dem sie auf beinah realistische, aber kindlich-schlichte Weise Herrscher der Verhältnisse sind. Was bedeutet das für ihre Sicht auf das wirkliche Leben? Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften gab »Counter Strike« ab 16 Jahren frei und schloss sich der Argumentation an, das Spiel habe eine positive pädagogische Wirkung. Allein dieses Spiel hat in Deutschland 600.000 registrierte Spieler und vermutlich noch einmal so viele mit kopierten Lizenzen.
Offenbar haben wir, nachdem wir einen Blick ins Kinderzimmer geworfen und uns furchtbar erschreckt haben, die Tür rasch wieder zugemacht.
Bundessicherheitsbericht: www.bmi.bund.de/cln_028/nn_165264/Internet/Content/ Broschueren/2006/2__Periodischer__Sicherheitsbericht__de.html Info über Computerspiele: www.spieleratgeber-nrw.de