Für Michal Rovner, sagt man, sei der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ihr Hauptthema – mag sein, dass sie diesen end- und aussichtslosen Kampf paradigmatisch versteht, doch tatsächlich geht ihr Blick weit darüber hinaus. Wenn die Prozession unzähliger winziger Figuren – mal auf Steinwände geworfen, mal in Petrischalen »schwimmend« – sich ruckelnd und gleitend bewegt, sich lockert, wieder ballt, aber immer weiter, weiter treibt, dann ist dies wie der Blick auf die gesamte Menschheit.
Diese Animationen schemenhafter grau-schwarzer Mini-Menschen ist zum Markenzeichen der 1957 in Tel Aviv geborenen Künstlerin geworden; mit entfremdeten Bildern von Soldaten aus dem ersten Golfkrieg hatte sie erstmals auf sich aufmerksam gemacht, nachdem sie Assistentin des amerikanischen Fotografen Robert Frank gewesen war. Es folgten diverse Filme, von denen sie einen, »Notes«, gemeinsam mit dem amerikanischen Komponisten Philip Glass realisierte.
Wenn Rovners Triennale-Arbeit »Current« ab August in der Mischanlage der Kokerei Zollverein zu sehen sein wird, dann stößt auch dort – wie sie es liebt – Zeitgenössisches auf Archaisches: Video-Animation auf brachialen Beton. Wird dieses Zusammentreffen ein Reflex sein auf die ewige Wanderung, die auch durchs Ruhrgebiet zog: kam, wieder ging… »Ich bin einfach hingerissen davon, dass Menschen immer weitermachen, dass immer wieder neues Leben entsteht, sich immer wieder diese Bewegung in Gang setzt«, bekannte Rovner einmal. Die schönsten Worte über die israelische Künstlerin aber fand ein Landsmann von ihr, der Schriftsteller David Grossman. Anlässlich von Rovners Installation »Histoires / Histories« 2011 im Pariser Louvre schrieb er:
DAVID GROSSMAN ÜBER MICHAL ROVNER:
»In ihren Arbeiten mit Video und Stein gehen menschliche Gestalten. Manchmal bewegen sie sich in einem unbekannten Raum, an einer Art mythologischem ›Jeder-Ort‹, manchmal zwischen bedeutungsbeladenen, symbolträchtigen historischen Gebäuden – etwa den Pyramiden in Ägypten. Diese Menschengestalten bewegen sich ohne Unterlass, mal gezielt, dann irren sie wieder richtungslos umher. Die Bewegung einzelner und die Bewegung der Masse. Vor allem aber entsteht der Eindruck der Bewegung von Menschen – der Gattung Mensch – im Vergehen der Zeit.
Diese Bewegung hypnotisiert. Eine ständige Prozession, endlos und eigensinnig. Lange Züge von Menschen bewegen sich langsam in einer Zeit, die eine merkwürdige Mischung aller Zeiten ist. Die Menschen haben etwas Vertrautes, Alltägliches, und in ihrer Schlichtheit Anrührendes. Gleichzeitig ist diese Bewegung beinahe zeremoniell, sie konkretisiert die nomadische Wurzel des Menschen qua Mensch. Endloses Umherziehen, Vergehen und Neuentstehen. Diese Bewegung ist die Essenz dessen, was Exil bedeutet, was Flüchtlingsein bedeutet, sie ist aber auch die Essenz des Fortschritts, des Suchens und Entdeckens. Bei diesem beinahe magischen Strömen der Zeit in der Zeit, der Kultur in der Kultur, bei diesem Ablauf, der die Seele des Werkes von Michal Rovner ausmacht, spüren wir plötzlich: Das sind wir selbst. Wir vergehen. Wir sind nicht mehr. So werden sich spätere Generationen unserer erinnern, oder uns, sehr wahrscheinlich, vergessen.
Zeit, Bewegung und Licht sind Michal Rovners Rohmaterial. Der tiefe Wunsch zu schaffen, aus dem festen Griff der Beliebigkeit und Entfremdung, des Vergehens und des Todes zu befreien, ist ihre künstlerische und menschliche Motivation. Ihre Kunst lässt uns aufwachen, uns sammeln, ein commitment eingehen und für einen Moment die Verbindung sowohl zum großen Lauf der Geschichte als auch zu den persönlichen Bewegungen des zerbrechlichen menschlichen Körpers zu spüren. Sie macht uns zu Künstlern, zu Schaffenden: Die winzigen Menschengestalten aus dem Stein rufen uns. Wir wissen nicht, wer sie sind. Es sind Menschen. Sie sind das Menschliche. Sie flehen, nicht vergessen, nicht ausgelöscht zu werden. Sie sind die lebendigen Sedimente einer menschlichen Erfahrung, die schon vernichtet wurde oder bald vernichtet werden wird. Sie sind der tiefe menschliche Wunsch des Menschen, einen Abdruck zu hinterlassen, ein Zeichen, eine Erinnerung. Sie sind wir.«
Der Text ist eine gekürzte und ins Deutsche übertragene Fassung des Beitrags, den der israelische Schriftseller David Grossman über Michal Rovner unter dem Titel »Stone, Light, Man« geschrieben hat – aus Anlass von Rovners Ausstellung »Histoires / Histories« im Pariser Louvre 2011.
Wir danken Grossman und Rovner für die freundliche Genehmigung, die Auszüge zu veröffentlichen. Übersetzung aus dem Hebräischen: Anne Birkenhauer.
© Louvre Edtions, Musée du Louvre, Paris 2011.
18. August bis 30. September, täglich 10 bis 18 Uhr; Gespräch mit Michal Rovner am 19. August um 12 Uhr im Museum Folkwang, Essen. www.ruhrtriennale.de