INTERVIEW: ANDREJ KLAHN
Mitte der 1990er Jahre saß der 1973 in Bagdad geborene Schriftsteller Abbas Khider knapp zwei Jahre wegen »politischer Gründe« in einem irakischen Gefängnis ein. Danach folgt eine vierjährige Irrfahrt durch mehre Länder, bis ihn die Polizei 2000 aus einem bayerischen Regionalzug holt. Er hat keinen Pass dabei, wird in einem Passauer Flüchtlingswohnheim einquartiert, als politisch Verfolgter anerkannt – und bleibt in Deutschland. Die Sprache seiner neuen Heimat lernt Khider nicht zuletzt aus Lyrikbänden, die er auf einem Münchner Flohmarkt kauft. Acht Jahre später erscheint der auf Deutsch geschriebene Roman »Der falsche Inder«, der die Odyssee eines Irakers auf der Flucht nachzeichnet. In »Die Orangen des Präsidenten«, Khiders zweitem Roman, erzählt der mittlerweile in Berlin lebende Schriftsteller die Geschichte des 19-jährigen Taubenzüchters Mahdi Hamama, von Folter und Inhaftierung.
K.WEST: Ist Ihnen zum Lachen zumute, wenn Sie Filme mit Charlie Chaplin gucken?
KHIDER: Ich habe erst kürzlich zusammen mit arabischen Freunden zuhause bei mir »Der große Diktator« gesehen. Ich schaue gern Chaplin-Filme, obwohl sie mich immer auch an jemanden erinnern, dem ich in meinem Leben besser nicht begegnet wäre.
K.WEST: Mahdi Hamama, der Ich-Erzähler, erinnert sich am Anfang Ihres neuen Romans »Die Orangen des Präsidenten« daran, wie ein Chaplin genannter Gefängnisaufseher auf ihn einprügelt. Es geschieht etwas ganz Unerwartetes: Mahdi Hamama beginnt zu lachen und kann nicht mehr aufhören. Der Erzähler nimmt sich vor, das Geheimnis dieses Lachens zu ergründen. Verraten Sie uns, worin dieses Geheimnis besteht?
KHIDER: Das ist schwer zu sagen. Aber letztendlich schreibe ich, um dieses Lachen zu verstehen. Vielleicht ist genau das das Geheimnis: Dass ich immer weitermachen muss, immer wieder neu anfangen muss, um es zu ergründen.
K.WEST: Man kann in diesem Lachen auch eine Verweigerungshaltung erkennen, durch die ein Gedemütigter versucht, seinem Folterer in einer entwürdigenden Situation zu begegnen.
KHIDER: Das kann man so sehen. Man ist hilflos, man kann nichts tun, Hände und Füße sind gefesselt, man kann nicht sprechen und wird geschlagen. In dem Moment, in dem ich lache, gebe ich dem Folterer zu verstehen: Ich bin da, und ich bin lauter als du.
K.WEST: Das scheint mir dennoch eine sehr ungewöhnliche Reaktion zu sein.
KHIDER: Es gibt eine arabische Redewendung, die besagt: Die schlimmsten Ereignisse des Schicksals sind lächerlich. Manchmal ist das Lachen eine Art Widerstand, mit dem man sich über die Verbrecher, Mörder und Diktatoren erhebt und sie lächerlich macht. Es ist eine große Herausforderung, diesen Gedanken in Literatur zu überführen. Das Leben bringt uns auch dann zum Lachen, wenn es traurig ist. Noch heute erinnere ich mich an einen Kriegstag 1991, als die Hölle über meine Familie hereinbrach. Explosionen, Geschosse, Bomben. Ich versteckte mich mit meinen Eltern im Zimmer. Wir wollten es nicht verlassen, weil wir große Angst hatten. Mein Vater war sehr aufgeregt und bekam Durchfall. Er wollte unbedingt auf die Toilette. Da hat meine Mutter gesagt: »Du Esel, hör‘ auf mit dieser Scheiße und kümmere dich um deine Kinder.« In diesem Moment haben wir alle angefangen zu lachen. So etwas bleibt im Gedächtnis.
K.WEST: Bewahren Sie dort auch einen solchen Moment auf, wie Sie ihn in der Eingangsszene beschreiben?
KHIDER: Claude Simon hat einmal gesagt: Alles ist autobiografisch, selbst das Erfundene. Das Schreiben über meine Zeit im Gefängnis war wie eine Befreiung. Ich hatte es immer wieder versucht und die Anfänge dann verworfen. Auf dem Cover des neuen Buches ist ein Bild Saddam Husseins zu sehen. Früher konnte ich Bilder von ihm nicht ertragen. Er war wie ein Dämon, ein Geist, der mich und viele Iraker verfolgt hat; und jetzt ist sein Bild auf meinem Buch zu sehen. Doch es macht mir nichts mehr aus.
K.WEST: Nach seiner Entlassung schaut der Ich-Erzähler nach langer Zeit mal wieder in den Spiegel und erkennt sich nicht. Er sieht ein ausgemergeltes, bleiches Gesicht. Welche nicht-sichtbaren Spuren hat diese Zeit hinterlassen?
KHIDER: Viele meiner Freunde haben sich umgebracht, andere haben den Verstand verloren. Ich hatte Glück, dass ich aus dem Irak fliehen konnte. Ich hatte damals schwere Schlafstörungen und brauche auch heute noch Licht, um einschlafen zu können. Denn wir haben zwei Jahre lang die Sonne nicht gesehen, nur Glühbirnen. Es macht mich nervös, wenn ich das Geräusch zuschlagender Tore höre. Dann kommen die Erinnerungen wieder. Manchmal träume ich, dass ich wieder im Gefängnis bin. Ich will weg, kann aber nicht. Dann wache ich schreiend auf. Diesen Traum haben alle Mitgefangenen, mit denen ich später gesprochen habe. Auch Jahre später noch. Und noch etwas haben wir gemeinsam: Selbst wenn das Leben schön ist, selbst wenn wir das Gefühl haben, etwas erreicht zu haben, ist immer die Angst da, alles zu verlieren.
K.WEST: Doch das, was Sie damals erlebt haben, ist der Fundus, aus dem sich Ihr Schreiben speist.
KHIDER: Aus literarischer Sicht könnte ich sagen: Ich habe Glück gehabt, so viel erlebt zu haben. Auch wenn sich das ein bisschen zynisch anhört. Ich kann und will nur eine Art dokumentarische Literatur schreiben. Das ist meine Aufgabe, ich bin es denen schuldig, die ihr Leben unter Saddam Husseins Regime verloren haben.
K.WEST: Wenn Sie sagen, dass das Schreiben über die Inhaftierung eine Art Befreiung für Sie gewesen ist, liegt es nahe, das Buch als eine Art »Talking Cure« zu lesen.
KHIDER: Das wäre übertrieben. Denn Schrei-ben hat doch zunächst einmal etwas damit zu tun, sich von anderen Autoren infizieren zu lassen. Dann fängst du an und kannst nicht mehr aufhören. Schreiben – das ist eine unheilbare Krankheit. Man darf auch nicht vergessen, dass Literatur immer auch Unterhaltung ist. Aber in meinem Fall ist es eben auch eine andere Art der Geschichtsschreibung.
K.WEST: Wie wichtig ist die orientalische Erzähltradition für Sie?
KHIDER: Hier wird orientalische Literatur immer mit »Tausendundeiner Nacht« gleichgesetzt. In der arabischen Welt hat ein Autor ein Problem, wenn man ihn in Zusammengang mit dieser Tradition bringt. Denn es heißt: antimodern. Als gäbe es bei uns keine moderne oder postmoderne Literatur. Als ich angefangen habe, mich für Literatur zu interessieren, gab es zwei Arten von Literatur im Irak: regierungstreue und so etwas wie die Literatur der »Inneren Emigration«. Schriftsteller, die sich dieser Richtung zurechneten, wurden in den 80er Jahren Formalisten genannt. Sie sahen eine Art Widerstand darin, Distanz zu gesellschaftlichen und politischen Fragen zu halten. Da ging es sehr viel um die Form als Qualität.
K.WEST: Für Sie dürften beide Richtungen wenig fruchtbar gewesen sein.
KHIDER: Dennoch hat mich die arabische Literatur geprägt. In ihr geht es häufig um magische Momente. Arabische Dichter erzählen von einfachen, alltäglichen Dingen, die trotzdem magisch sind. Von Unglaubwürdigem, das glaubwürdig erscheint. Doch sie sind dabei sehr weitschweifig. Von der deutschen Literatur habe ich Kürze gelernt. So bin ich ein Kind beider literarischen Kulturen geworden.
K.WEST: Ein Kind, dessen biologische Eltern ihm das Schreiben nicht in die Wiege gelegt haben.
KHIDER: Meine Eltern sind Analphabeten. Ich habe die Literatur früh, aber zufällig entdeckt. Mein Schwager war Literaturdozent an der Universität Bagdad. Noch prägender aber war, dass ich religiös gewesen bin. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, Bücher zu lesen. Ich war auf einer islamischen Schule, auf der ich in Kontakt mit Literatur gekommen bin. Dann habe ich die Religion vergessen, nicht aber die Literatur.
K.WEST: Die ersten Verse Rasul Hamids, dessen Leben in Ihrem ersten Roman erzählt wird, werden auf Packpapier geschrieben, das eigentlich dazu bestimmt war, Datteln darin einzuwickeln. Er zweigt dieses Papier aus dem elterlichen Laden ab, um ein Mädchen zu bedichten. Worauf haben Sie Ihre ersten Verse geschrieben?
KHIDER: Auf Dattelpapier.
K.WEST: Wovon handelten sie?
KHIDER: (Lacht) Von einem Mädchen, das mich nicht mochte.
K.WEST: Als Sie 2000 nach einer vierjährigen Odyssee nach Deutschland kamen, sollen Sie nur zwei Worte gekannt haben: »Hitler« und »Scheiße«.
KHIDER: Ein drittes kam schnell hinzu: Lufthansa.
K.WEST: Acht Jahre später ist der erste Roman erschienen, den Sie auf Deutsch verfasst haben. Ist Ihnen diese Sprache heute noch fremd?
KHIDER: Spontan würde ich sagen: ja. Aber fast alle meine Freunde sprechen Deutsch, ich lese auf Deutsch, arbeite mit Deutschen und habe in Deutschland studiert. 2003 habe ich aufgehört, Arabisch zu lesen und arabische Musik zu hören, bis 2008. Ich habe das Gefühl, die deutsche Sprache ist wie die Sahara, es gibt unendlich viele Sandkörner. Man kann diese Sprache nie beherrschen. Ich werde also immer ein Lehrling bleiben, und beim Schreiben lerne ich, wie gern ich Lehrling bin. Natürlich möchte ich manchmal tiefer eintauchen in diese Sprache, schaffe es aber nicht. Aber ich habe auch das Gefühl, dieser Oberfläche etwas verleihen zu können: die Tiefe der arabischen Kultur.
K.WEST: Aus dem Exil und aus der Erinnerung heraus betrachtet, nimmt sich die Zeit in der verlassenen Heimat vermutlich schöner aus, als sie war. Wie sehnsüchtig schauen Sie heute auf den Irak?
KHIDER: Ich war häufig in den letzten Jahren im Irak. Leben könnte ich dort nicht.
K.WEST: Warum nicht?
KHIDER: Die Gesellschaft, ihre Werte haben sich vollkommen verändert. Nicht erst mit dem Krieg 2003, sondern schon während des Embargos in den 1990er Jahren. Damals begannen die Iraker zu verstehen, was Hunger ist. Viele wurden Tiere, die hinter dem Fleisch her waren. So haben sie sich verloren. Plötzlich stieg die Kriminalität an. Die Gesellschaft ist kaputtgegangen. 2003 kamen dann die Amerikaner und dachten, nach dem Sturz Saddam Husseins mal schnell eine Muster-Demokratie etablieren zu können. Der Irak war aber nicht bereit für ein solches Projekt nach mehr als 30 Jahren Diktatur, mit mehr als 50 Prozent Analphabeten und einer noch höheren Arbeitslosigkeit. Wer dort etwas verändern will, muss bei Kultur und Bildung ansetzen. Doch ich sehe für die Zukunft schwarz.
Abbas Khider, »Die Orangen des Präsidenten«. Edition Nautilus, Hamburg 2011, 160 S., 16 Euro. Erscheinungsdatum: 2.3.2011
Buchpremiere mit Abbas Khider am 24.2.11 im Literaturhaus Köln. www.literaturhaus-koeln.de