TEXT: ANDREAS WILINK
Zunächst ist da Abwehr, fast Unwillen. Treffpunkt Hotelfoyer. »In der Raucherzone. Ich rauche nämlich.« Als könnte das schon eine Barriere setzen, vor der ihr am liebsten wäre, man würde davor kehrt machen. Margit Carstensen will keine öffentliche Frau sein: »Ich ent-ziehe mich gern. Das passt zu meiner Natur.« Es gebe auch nichts Neues zu erzählen; und überhaupt übe sie den Beruf der Schauspielerin – »ein Elend mit diesem Beruf, man ist so abhängig davon« – im Moment kaum mehr aus. Eine Ausnahme: Christoph Schlingensief – wie jetzt wieder während der Ruhrtriennale.
Eigentlich ist Margit Carstensen erst 17 Jahre alt. Möglicherweise hat ihre Mädchenhaftigkeit damit zu tun, dass sie an einem 29. Februar geboren wurde (Sternzeichen Fisch und damit chronisches Einzelwesen) und folglich nur alle vier Jahre die Wiederkehr dieses Datums begehen kann – obgleich sie nicht einmal das tue.
Kann sein, dass die Schauspielerin deshalb an die Märchenprinzessin im gläsernen Sarg erinnert, gestochen vom Rosendorn, der Spindel des Spinnrads, den Splittern des Spiegels und gefangen im Zeitraum des Verwunschenen. Margit Carstensen trägt ihr Herz in sich wie ein nördliches Land den Kern einer Südfrucht.
Attribute, die der 1940 in Kiel geborenen Norddeutschen mit dänischen Wurzeln zugewiesen werden, wiederholen sich häufig: Vom Spröden und Herben, Schroffen und Schrulligen geht die Rede. Eine Fixierung, der sie selbst vergnüglich nachgab, etwa am Bochumer Schauspielhaus. Während der Haußmann-Intendanz spielte sie Rollen wie die schräge Society-Schreckschraube Lady Bracknell in Oscar Wildes »Bunbury« oder in Stephen Kings »Misery« die Ami Wilkes, die als schrille amerikani-sierte Witwe Bolte Blut leckte. Carstensen scheint wie jenes angeknackste kostbare Porzellan, das haltbarer ist als ein unversehrtes Stück.
Das Fahrig-Nervöse verdrängt ein wenig das Elementare und die Ambivalenz von Duldsamkeit und Aufruhr, mit der sie die antiken Tragödinnen, klassischen Damen und Salon-Heroinen verkörpert hat. Mütter und Matronen in Saft und Kraft hingegen fielen ihr schwer: »Ich kann die Fülle nicht spielen, die ich nicht habe. Ich bin eher ein schlanker Mensch.« Schmal wie eine Giacometti-Silhouette, aber gefährlich geschärft und aufgeraut emotional spielte sie zuletzt in Bochum die Mutter des Odysseus und bittere Todes-Träumerin im »Elften Gesang«, den Roland Schimmelpfennig für die Ruhr-»Odyssee Europa« verfasst hat.
In ihren Jugendtagen hatte sie es mit den Mädchenrollen nicht so sehr. Die legte sie in sich ab: zur Verwahrung. Stets habe sie zum Charakterfach tendiert und »zu den kaputten Naturen«, sagt Margit Carstensen. »Früher habe ich meist älter gespielt, jetzt spiel’ ich eher rückwärts«, rechnete vor zehn Jahren die damals 60-Jährige vor. Da hatte sie schon ein Wanderleben von Heilbronn, Münster und Braunschweig über Hamburg und Bremen nach Darmstadt und Frankfurt, weiter nach Berlin und Stuttgart und bis Essen, München, Bochum und Wien geführt. Vor ein paar Jahren ist sie ganz in ihr Haus auf Mallorca gezogen. Jetzt plant sie die Rückkehr. Berlin wäre eine Adresse.
Margit Carstensen war – unter cineastischen Kennern wird sie es blei-ben – ein Idol: durch ihre Arbeit mit Fassbinder in den 70er Jahren. Er gehört zu den vier prägenden Regisseuren ihres Lebens, von dem sie sagt, dass sie es weithin mit dem Theater gleichgesetzt habe: »Für anderes fehlte mir der Atem«.
Der jüngste in dem Quartett ist des Chaos’ wunderlicher Apotheker-Sohn aus Oberhausen. Mit Schlingensief hat sie Filme gedreht und Theater gespielt, zuletzt während der Ruhrtriennale 2008 und in der Fortsetzung »Mea Culpa« am Wiener Burgtheater. In »Eine Kirche der Angst« orakelte sie als Predigerin des Erbarmens von der »Nichtigkeit«, während der sein Krebsleiden bezeichnende Schlingensief ein Requiem von Zorn und Pein zelebrierte: ergriffen von sich selbst.
»Christoph existiert in seinem eigenen Kopf. Er produziert Dinge, die man nicht spontan mitdenken kann, man muss sie entschlüsseln und seine eigene Wahrheit darin finden.« Carstensen als Entfesslungskünstlerin, Ärztin und Patientin auf der Intensivstation Deutschland hat in den Ready Mades von Schlingensief Anteil am Wahnsinn, schlägt Wunden, leuchtet grell und fahl, begibt sich an Schmerzgrenzen und darüber hinaus. »Sich-Preisgeben und Rücksichten fallen lassen«, seien für sie als Schauspielerin ein »psychisches Ziel«. Gleichwohl fragt sie sich, was für einen Platz in Christophs Welt sie habe: »Sonst fühle ich mich überflüssig.«
Die gemeinsamen Ergebnisse betrachtet sie oft »total perplex«. »Das liegt nicht in meinem Phantasiebereich«. Zwischen ihr und ihm exis-tiert eine persönliche Verbindung, die künstlerisch vermuten lässt, sie changiere ins Spiegelbildliche.
Als sie Schlingensief im Krankenhaus besuchte, erzählt sie, habe er gebeten: »Leg Dich in mein Bett. Nimm meinen Platz ein.« Sollte so die Leidensfigur geprobt und erfühlt werden, die ihr zu spielen einmal von ihm aufgegeben sein würde? Das hat sie verweigert und als »pervers« verworfen. Sie muss die Möglichkeit haben, die Verfremdung zu gestal-ten. Imitatio allein reicht nicht.
Schlingensief, der Fassbinder bewundert und als Extremist und Absolu-tist beerbt hat, erweist ihm in der Zusammenarbeit mit Carstensen auch eine Hommage. Das Genie des Neuen Deutschen Films habe sie, sagt Carstensen, als »meine erste professionelle Schauspielerin« geschätzt. Sie schränkt ein: »Meine Erfahrung war ganz naiv, nur hatte ich einen Fundus mit mir, den ich gern heraus gelassen hätte«. Die Begegnung mit RWF war für sie ihr »eigentlicher Einstieg ins Leben«, nachdem sie bis 1972 in Bremen unter Kurt Hübner verpflichtet war und ihn dort kennen lernte. »Ich bin vorher überhaupt nicht und später auch häufig wenig gefordert worden«.
Die Härte in der Buchstabenfolge des Vor- und Zunamens (mar/car) wiederholt sich bei drei ihrer Frauenfiguren für Fassbinder: Martha, Petra von Kant und Margot (»Angst vor der Angst«). Darüber sei nie gesprochen worden. Richtig ist, dass es Katastrophenfrauen waren, die Fassbinder der Carstensen im Theater und auf der Leinwand zuwies und zumutete, und deren Element im Lebensfeindlichen lag. »Eine Spezialität von mir«, sagt sie auf ihre einsilbig überlegte Weise. »Ich steige in jede Rolle ein, indem ich sie zu mir heranziehe. Krasser und skurriler, als ich selbst bin, wurde es dann von Fassbinder geformt, der allerdings wusste, dass ich auch das Abartige herstellen konnte.«
Zum Beispiel: »Die bitteren Tränen der Petra von Kant«. Carstensen, die dafür mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet wurde, ist eine Virtuosin der Form und des Façon-Verlustes, als Geschäftsfrau, Lesbierin und angepasste Terroristin wider die bürgerliche Norm. Zu der geschraubten Stilisierung des Films hat sie ein gespaltenes Verhältnis, spürt in dem Formalismus Reduktion, aber auch die Möglichkeit, Schmerzen zu fliehen: »Jede Art von extremem Gefühl ist Schutz, weil es Aufmerksamkeit nach außen richtet.«
Irgendwann hatte sie den Eindruck, »Spielzeug« zu sein und »eine Funktion auszufüllen«. Freiheit zu etwas und Nötigung zu etwas sind im Verhältnis Regisseur-Schauspieler ein komplizierter Vorgang. »Ich verbinde den Beruf zu sehr mit meiner privaten Person, als dass ich benutzbar wäre. Ich kann mich nur selbst benutzen.«
Von Fassbinder ließ sie sich »ausnutzen«: dialektisch genommen – nutzbringend für beide Seiten. Was wiederum für ihre »Martha«, der grandiosen Studie von Abhängigkeit und Zweikampf zwischen Mann und Frau, produktiv wurde. »Martha« von 1973 ist Margit Carstensens Eintrag in die Filmgeschichte.
Zu dem, was man Prominenz nennt, hat sie es nicht gebracht. Zur Popularität gehört Eindeutigkeit. Sie aber schafft eine Aura um sich, als ginge sie durch ihre Rollen wie durch eine Unterwelt, als läge ein kristalliner Panzer um sie – eine Rüstung wie die, die sie als Erzengel in Fassbinders Epilog zu Döblins »Berlin Alexanderplatz« trug. Damals sprachen Regisseur und Schauspielerin schon nicht mehr miteinander.
Fast könnte man meinen, lieber wäre sie ein Mann geworden. Sie stimmt zu: »Von meiner Veranlagung her wäre ich gern ein Junge gewesen. Männer funktionieren geistiger, haben den Kopf in den Wolken, sind nach oben hin orientiert, Frauen sind erdbezogener und vor allen Dingen praktisch. Ich hingegen habe keine Füße auf dem Boden.«
Die Hingabe an phantasiebegabte Menschen wirkt auf einen selbst zurück. Gern arbeitet sie »mit gescheiten Leuten«. Das hat sich wiederholt: politisch, von moralischer Haltung getragen (und häufig von Misserfolg begleitet) mit Hansgünther Heyme; spielerisch mit Leander Haußmann (»Er hat meine Schwere aufgebrochen«); anarchisch mit Schling-ensief in Filmen wie »Terror 2000«, »Die 120 Tage von Bottrop« und »100 Jahre Adolf Hitler«.
Schlingensief und Haußmann verbinden sich für sie durch ihre kreative Zerstörungslust, die demontiert, Neues findet und bewusst Trash herstellt. Verschwenderisch mit einem Stoff umzugehen, ihn aufzubauen, zu vernichten, in Zweifel zu ziehen, das reizt sie. Solch produktive Unvernunft ließ Carstensen unduldsam werden: »Proben ohne Fortschritte, das nervt mich entsetzlich. Ich mag es, wenn ein Regisseur die Dinge lenkt.«
Margit Carstensen ist souverän genug, sich unterzuordnen. Es muss sich freilich lohnen. Bei all dem ist ihr darum zu tun, »über sich selbst hinauszusehen, eine berufsspezifisch selbstverliebte Genügsamkeit zu überwinden. Ich brauche Motivation, sonst finde ich den Beruf beschämend, will einen Grund außerhalb meiner selbst finden, etwas, das mich rechtfertigt, mich auf eine Bühne zu stellen.«
So kann Margit Carstensen sagen, sie hege »eine gewisse Abscheu vor dem Theater« – in seiner Belanglosigkeit. Auch darin trifft sie sich mit Christoph Schlingensief.
15. und 16. September 2010; Gebläsehalle Landschaftspark Duisburg-Nord; www.ruhrtriennale.de