TEXT: FRIEDER REININGHAUS
Ob als Dirigent, ob als Komponist – was Johannes Kalitzke auf die Bühne befördert, gehört nicht zum pflegeleichten Segment des Angebots. Sperrig sind in der Regel die Kompositionen, die er schreibt, sperrig die, die er dirigiert – im Juli dieses Jahres z.B. die musikalisch hoch komplexe Indianer-Oper »Chief Joseph« von Hans Zender in Berlin. Vor der Uraufführung war ihm, wie er gestand, »leicht mulmig« – wegen der musikalischen Herausforderung und mehr noch wegen der ungewissen Aussicht des Ganzen. Doch seinen Part absolvierte er mit Bravour.
Kalitzke, Jahrgang 1959, stammt aus Köln und wurde dort musikalisch in jenen Jahren sozialisiert, als die Stadt auf dem Feld der Neuen Musik international eine führende Stellung einnahm. Die Voraussetzungen für die Ausprägung der doppelten Begabung waren denkbar günstig. »Meine Großmutter war Opernsängerin und hatte in dem Haus, in dem wir wohnten, eine Gesangsschule. Außer für Privatunterricht sorgte sie gelegentlich für häusliche Aufführungen, vor allem von irgendwelchen Operetten. Das war ziemlich skurril – wie in einem Film von Fellini. Aber als Kind bekommt man das ja nicht mit, sondern hält es für normal. Es wurde durchaus gern gesehen, dass sich in anderen Stockwerken der musikalische Antrieb aus der Tiefe fortsetzte.«
Das Kind musste nicht an die Musik herangeführt werden – die Musik war schon da. Nur sein Verhältnis zu ihr musste solide, modern und dann professionell ausgerichtet werden. »Als ich sechs war, habe ich durch mein Herumtoben auf dem Klavier meine Eltern dazu gebracht, mir Klavierunterricht geben zu lassen.« Für die »geregelten Bahnen « sorgten zuerst, wie üblich, Klavierlehrerinnen; dann, parallel zur Gymnasialzeit, der Besuch des Konservatoriums, der Rheinischen Musikschule sowie (als Jungstudent) der Musikhochschule, an der er 1981 regulär abschloss. »Mit 14 oder 15 hatte ich einen Rappel und fing an, mir unentwegt Schallplatten zu kaufen – Musik des 20. Jahrhunderts. Das hing nicht nur mit meinem Vater zusammen, der so etwas nicht leiden konnte. Doch es gab da einfach ein Faszinosum. Beim Hören dieser Musik fiel mir auch immer selbst etwas ein – das hat sich dann so verdichtet, dass ich es aufschreiben wollte. Der Kontakt zu York Höller, der damals einen Lehrauftrag für Harmonielehre hatte und dem ich mein erstes Stück zeigte, war ganz entscheidend für die Motivation, mit dem Komponieren weiter zu machen.«
Vor der Ausbildung zum Dirigenten – der Kompositionsunterricht bei Höller lief nebenher – legte Kalitzke ein Examen in Evangelischer Kirchenmusik ab. »Neben dem eigentlichen Studium an der Musikhochschule in Köln hatte ich eine Organistenstelle und bekam so eine Menge Routine, vor allem auch beim Vom-Blatt-Spielen. Ich studierte bei Aloys Kontarsky Klavier. Versiertes Klavierspiel ist eigentlich die Voraussetzung, um überhaupt die Dirigentenlaufbahn beginnen zu können.«
Ausgestattet mit dem Dirigenten-Diplom und geadelt durch einen Studienaufenthalt in Paris bei Vinko Globokar, lernte Kalitzke Carla Henius kennen, Dramaturgin am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen (MiR); erfolgreich bewarb er sich dort um einen Korrepetitoren-Posten. »Ich hatte vier Jahre lang reichlich Gelegenheit, dem Generalmusikdirektor bei der Arbeit zuzuschauen. Henius hatte eine glückliche Hand für Mitarbeiter, die ihr zuarbeiteten – das war eine große Chance für mich.«
1986 wechselte der damalige Gelsenkirchener Intendant Claus Leininger mit seiner Dramaturgin nach Wiesbaden. Sein Nachfolger Mathias Weigmann ließ den Korrepetitor zum Leiter des Forums für Neue Musik am MiR aufrücken, engagierte sich insbesondere auch für neues Musiktheater, verpflichte »spannende Regisseure und Sänger«, wie Kalitzke hervorhebt. »Als Weigmann jedoch schon nach zwei Jahren aufhören musste und gleichzeitig auch der GMD Uwe Mund wegging, musste von heute auf morgen ein neues Team gefunden werden. So wurde ich ins kalte Wasser der Chefposition geworfen. Ich hatte mit dem Orchester zunächst ebenso große Probleme wie das Orchester mit mir. Die Musiker konnten oder wollten nicht verstehen, wie sich einer so rasch vom Korrepetitor zum Generalmusikdirektor hocharbeitet – und ich konnte nicht verstehen, warum die nicht freiwillig übten.«
Beim Aufbau der Musikfabrik NRW gab es wohl weniger Disziplinprobleme: Das Landesensemble für experimentelle Musik wurde 1990 von Johannes Kalitzke maßgeblich mit begründet, bis 1997 geleitet und genießt unter seinem heutigen Namen musikFabrik hohes Ansehen. So wie Kalitzke selbst – lang ist mittlerweile die Liste der Werke, die mit seiner Hilfe das Licht des Musiktheaters erblickten. Einige von ihnen dürften es weiter bringen als bloß zu Fußnoten der Musikgeschichte. »Der Schaum der Tage« z.B.; er wurde nach dem tollkühnen Roman des anrüchigen Chanson-Dichters Boris Vian vom frankophilen Moskauer Komponisten Edison Denissow luftig geschlagen und 1986 nach Paris exportiert, 1991 dann am Musiktheater im Revier präsentiert.
Die Beschäftigung mit der von Vian ersonnenen Bohème und den Schreibweisen Denissows war für Kalitzke eine wesentliche Voraussetzung für seine erste eigene musikdramatische Arbeit – Thomas Braschs Vian-Adaption »Bericht vom Tod des Musikers Jack Tiergarten«. Die zugespitzte Künstler-Biografie des Posaunisten Teagarden, im Mai 1992 in Wiesbaden uraufgeführt, greift Motive aus dem Leben des Jazz-Trompeters und -Sängers Chet Baker auf, der 1988, wohl infolge einer Überdosis, aus einem Amsterdamer Hotelfenster stürzte, spielt aber auch auf die Vita von Jimi Hendrix an. In Kalitzkes Musiktheater wird aus dem unheilbar kranken Künstler einer, den seine Phantasie verlässt: Er verliert buchstäblich seinen Kopf. Die surreale Szenenfolge mochte durchaus auch Ängste ihrer Urheber verraten.
Quer zum Zeitgeist der meisten neuen Opern, der sich allzu sehr in alten Mythen spiegelte, stellte Kalitzke sich so als problembewusster Komponist einer ungebärdig-avancierten Kammeroper vor. Von nun an wurden von ihm weitere und größere Musiktheater- Taten erwartet. Es waren der Leidensdruck der produktiven Menschen und die politischen oder gesellschaftlichen Widerstände gegen die wahrhaftige Produktivität, die sich als Roter Faden durch seine folgenden Werke spinnen sollten.
Als die große Implosion des realen Sozialismus stattfand, nutzten einige Protagonisten des Musiktheaters diese plötzliche Überfülle an Stoffen und Problemen. Zu den prononciertesten Arbeiten, die sich am Alltag der stalinistischen Ära abarbeiteten, gehören Alfred Schnittkes »Life with an Idiot« (Amsterdam 1992), Dieter Schnebels Torso »Majakowskis Tod – Totentanz« (1998 in Leipzig von Achim Freyer inszeniert, von Johannes Kalitzke dirigiert) sowie die aus Michael Bulgakows Roman »Der Meister und Margarita« transformierte große Oper von York Höller (Paris 1989). Von ihr wurde Kalitzkes zweite musikdramatische Arbeit inspiriert: »Molière oder Die Henker der Komödianten« nach dem Stück »Kabale der Scheinheiligen« von Michail Bulgakow. Das – nach wenigen Aufführungen verbotene – »Dramatische Nachtstück in vier Akten« von 1936 projizierte wesentliche Momente von Bulgakows Biografie (vor allem auch seine enttäuschten sozialistischen Hoffnungen und seine Zukunftsängste) auf das Leben und Wirken Molières, des theatral göttlichen wie menschlich allzumenschlichen Dramatikers und Theater-Prinzipals: auch er ein Mann mit »verrutschender Würde und Anflügen von sentimentalem Selbstmitleid«. Dass am Ende des 20. Jahrhunderts neuerlich das Verhältnis von Kunst und Macht thematisiert wurde, erschien zwingend. Kalitzkes Nachtstück mit seinem insistierenden Ton trieb die fällige (Selbst-)Reflexion dieses beschädigten Verhältnisses voran.
Daran knüpft »Inferno« an, Kalitzkes jüngste musikdramatische Arbeit, die im Juni in Bremen ihre Uraufführung hatte. Wieder stehen ein Künstler und seine ganze zwiespältige Problematik im Zentrum einer Szenenfolge, die keine lineare Handlung vorgibt, sondern episches Theater intendiert. Arbeitete sich »Molière« am Stalinismus und der ihm unterworfenen Künstler ab, so wagt sich diese neueste Oper ins zentrale Trauma Mitteleuropas: den Nationalsozialismus samt den gesellschaftlichen Kriechströmen, die, von ihm herrührend, die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft infiltrierten. Der aus dem Jahre 1964 von Peter Weiss (1916–1982) stammende, erst unlängst veröffentlichte Text zur Oper – mit vielen Bezügen zur Biografie des im schwedischen Exil lebenden Autors – spielt mit der Figur des aus dem dito Exil zurückgekehrten Dichters Dante: Dieser wird mit dem durch die (diesseitige) Hölle führenden Moderator Vergil konfrontiert sowie einem in vielen Rollen auftretenden Theaterprinzipal samt seiner improvisationsfreudigen Truppe. Mit den Machthabern der Stadt wird subtil abgerechnet, die Schwäche des Künstlers problematisiert. Die Erinnerung an Liebe, Literatur und Leid im frühen 14. Jahrhundert diente Weiss als Tableaux für deutliche Hinweise auf die gesellschaftliche Amnesie und die Schriftstellernöte in der Adenauer-Ära.
So fern gerückt die »brechtisierende« Sprache und der Manierismus von Weiss heute auf den ersten Blick erscheinen mögen: Ihre Künstlichkeit und die historisch weit zurückprojizierende Folie des beschädigten Lebens von Dante Alighieri ermöglichen den konzisen Einsatz der von Kalitzke musiktheatral erprobten kompositorischen Mittel: Vielfalt und Strenge, die mit den verschiedensten Aggregatzuständen der gesprochenen und gesungenen Sprache noch einmal eine Künstleroper konstituieren.
Das Moment der Konstruktion tritt deutlich hervor, die elektronischen Einblendungen erweisen sich als unauffällig. Mit den verschiedenen literarischen Schichten korrespondiert die kompositorische Bemühung traditioneller musikalischer Formen – sie erscheinen in travestierter Gestalt (ähnlich wie in Alban Bergs »Wozzeck«). Da findet sich, durchaus mit belcantistischen Anflügen, eine »Aria alla Scala«, aber auch ein »Boogie«, eine »Marcha funebre« oder eine »Valse« mit beständigem Taktwechsel. Manch ein Trümmer historischer Musik ist umgeben von neu montiertem Kontext: Der Tonsatz weist diskrete Anklänge an die Musik Palestrinas auf, die als Chiffre des Mittelalterlichen fungiert; die einkomponierten Satie-Zitate verschwinden vollständig in der Lineatur der Partitur, die von der Keimzelle eines zwischen Dur und Moll changierenden Akkords aus entwickelt wird – »gewissermaßen als Kernelement des Zweideutigen«.
Kalitzke, der mittlerweile meist in Wien lebt, will hoch hinaus – und fordert von denen, die auf seinem Kunstweg mitgehen wollen, ein Äußerstes. In einigen Fragen freilich ist der Komponist, der bei Hans Ulrich Humpert elektronische Musik studierte, konservativ: »Für die Herstellung von elektronischer Musik war und ist der Einsatz des Computers unerlässlich. Auch im laufenden Geschäftsbetrieb hilft er Zeit sparen. Aber beim Komponieren!? Nur das, was ich von Hand geschrieben und gegebenenfalls auch wieder wegradiert habe, ist für mich authentisch: Die Historie der Entstehung gehört zum Schaffensprozess. « So bleibt radikale Kopfarbeit also weiterhin auf Handarbeit angewiesen.