TEXT: ANDREAS WILINK
Beinahe hätte es das Münchner Manifest geheißen. Im »dörflich« engen (Peter Berling), aber lockeren Beieinander von Schwabing lebte die Mehrzahl der Unterzeichner und hatte die Thesen auch dort formuliert. Es war für diese Vereinigung der Ungleichen »eine Münchner Angelegenheit«, erklärt Haro Senft, einer der Verfasser und Wegbereiter mit seiner Gruppe DOC 59. Ein paar Jahre später hätte es vermutlich den Titel Hofer Manifest getragen, präsentiert während der damals gegründeten Filmtage.
Hilmar Hoffmann als Direktor der Volkshochschule und Gründer der Oberhausener Kurzfilmtage rechnet sich das Verdienst an, dass die 26 Unterzeichner ihren 22 Zeilen langen Aufruf öffentlichkeitswirksam im Rahmen seines als links geltenden Festivals verkündeten. So wurde am 28. Februar 1962 während der VIII. Westdeutschen Kurzfilmtage, wie sie noch hießen, von Ferdinand Khittl der Text vorgetragen, der als Gründungsdokument des Jungen Deutschen Films gilt, auch wenn noch ein paar Jahre ins Land gehen sollten, bevor die Sache reif wurde.
»Eins weiß ich sicher: Eine Gruppe waren wir erst nach dem Verfassen des Manifests.« (Edgar Reitz)
Wie auch sonst? Aus dem formulierten Aufbruch wurde zwar bald eine konzertierte Aktion von Filmemachern (durchaus von Vorteil, dass Juristen wie Hark Bohm, Alexander Kluge, Norbert Kückelmann dazu zählten), Filmkritik und erklärtem politischen Willen, der sich früh in der NRW-Kurzfilmförderung, dann im Kuratorium junger deutscher Film, 1967 im Filmförderungsgesetz und weiteren diversen Maßnahmen niederschlug – bis zu den kalkulierten Exzessen des Gremienfilms, Intendantenprinzips, Verbandswesens, dem Subventionstourismus und Mantra der Wirtschaftsfaktoren. Bis zu dem, was der Filmemacher Klaus Lembke »Staatskino« nennt.
In den Sechzigern musste zunächst ein System her. Infrastruktur, Lobbyarbeit. Zur Institutionalisierung gehörten Ausbildung, Förderung, Verleih, Vertrieb, Verwaltung. Und als Pendant zum kommerziellen Abspielbetrieb ein Netzwerk Kommunaler Kinos.
»Im Ausland wurden wir Oberhausener als ›Patrioten der Filmgeschichte‹ gesehen.« (Alexander Kluge)
1962 werden in der Bundesrepublik 64 Filme gedreht, darunter von Staudte, Käutner oder auch Alfred Vohrer, der einen seiner Edgar Wallace-Krimis produziert. Liselotte Pulver und Heinz Rühmann bekommen den Bambi, die Beatles treten im Hamburger Starclub auf. Conny Froboess singt »Zwei kleine Italiener«, im Fernsehen wird Durbridges »Halstuch« zum Straßenfeger. Aber der Kino-Boom der falschen Fünfziger war vorbei, die Branche im Niedergang. Joe Hembus’ Streitschrift sagte es mit polemischer Schärfe: »Der deutsche Film kann gar nicht besser sein.« Endzeitklima. Vakuum. Wechselstimmung.
Das Manifest schuf die Zäsur. Kluge, Edgar Reitz, Peter Schamoni, Senft, Hans Rolf Strobel und Herbert Vesely gehören zu den Verfassern: alles Männer, viele Regisseure und ein Schauspieler, Christian Doermer. Man sieht die Herren auf einem gemeinsamen Foto, bis auf einen in dicken Mänteln, einige mit dunklen Brillen. Es war Winter. Doch die Sonne ging auf. Obwohl der Vorfrühling zunächst darin bestand, dass die Riege (abgesehen von dreien, darunter Vesely mit seiner bemerkenswerten Böll-Verfilmung »Das Brot der frühren Jahre« von 1962) ausschließlich preisgekrönte Kurzfilme vorzuweisen hatte.
Kurzfilme waren Kulturgut und am besten standardisiert: 250 MeterLänge, übersetzt: circa zehn Minuten. Das Format passte so gut ins Vorprogramm der Lichtspieltheater. Bekam ein Kurzfilm das Prädikat Wertvoll oder Besonders wertvoll, boten sich Vorteile. Ein Kopplungsgeschäft: War ein Kurzfilm dem Hauptfilm vorgeschaltet, sparte man Steuern.
Denn naturgemäß geht’s beim Film um Geld. Übrigens waren Altproduzenten wie der noble Hans Abich, Franz Seitz und Horst Wendlandt selbst engagiert bei der Blütenlese des Neuen Deutschen Films. Seitz sollte neben Lümmel-Filmen und Thomas-Mann-Adaptionen auch zwei Schlöndorffs produzieren, Wendlandt neben Karl May, Edgar Wallace und Bud Spencer auch dreimal Fassbinder mitfinanzieren.
Erste Reaktion auf das Manifest: »rundum Entrüstung, Spott und Häme«. (Haro Senft)
1965, 1966 und 1967 liefen dann die Filme auf Festivals und im Kino, die die Oberhausener gefordert, aber selbst nur partiell realisiert hatten: »Nicht versöhnt« von Straub/Huillet (ebenfalls nach Böll), Schlöndorffs bestechender »Törless« mit der Musik von Henze, Johannes Schaafs »Tätowierung«, Peter Schamonis »Schonzeit für Füchse« und Alexander Kluges Film, der das Motto setzte: »Abschied von Gestern«. »Uns trennt von Gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage.«, steht als Leitwort über der Geschichte von Anita G. und dem ostwestdeutschen Stationendrama einer Unbehausten. (In der DDR wurde im selben Jahr, 1966, Frank Beyers »Spur der Steine« verboten.)
Mit den genannten Filmen hatte sich das Spektrum geöffnet, das die Bewegung kennzeichnen würde. Hier der von der Literatur und französischer Kultur geprägte Geschichtenerzähler Schlöndorff; dann jemand wie Schaaf, der wie viele Kollegen bald mit dem Fernsehen verheiratet sein würde, ohne ganz monogam zu sein; dort der das narrative Kino aufbrechende, assoziative Film-Essays und dokumentarische Prosa drehende Adorno-Schüler und Fritz-Lang-Volontär Kluge, der den Apparat als Muse zur Reflexion benutzen wird. Eine Methode, die unterschiedliche Regisseuren wie Straub, Syberberg und Werner Schroeter anwenden werden.
Das Schlagwort der Oberhausener Störenfriede, als grüne Aufkleber gedruckt und verteilt, hieß: »Paps Kino ist tot«. Aber das Manifest formuliert präziser, selbstbewusst und mit dem noch theoretisch begründeten Anspruch, »den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen«. Man habe »konkrete geistige, formale und wirtschaftliche Vorstellungen«, man wünsche die »Freiheit von Konventionen, Beeinflussung und Bevormundung«.
Das zielte auf die von der Filmwirtschaft, dem Markt und der Masse des Publikums getragene und forcierte Ufa-Ästhetik mit Heimat-, Schlager- und Ärztefilmen und einer wirklichkeitsvergessenen Biedermeierlichkeit. Es meinte das formale Experiment, Befreiung der Kamera aus dem Studio und des Schauspielers aus seinem Korsett. Meinte Emanzipation, auch von den Käutners und Staudtes, die für ein Kino der Kontinuität, wenngleich eines der leisen Widerständigkeit und unterschätzten Zeitgenauigkeit standen. Aber deren Kino war ein im Doppelsinn fertiger Stil. Einzelgänger wie Georg Tressler (»Die Halbstarken«) und Bernhard Wicki (»Die Brücke«) wurden ausgeblendet. Rebellen sind rigoros, auch ungerecht. Dialog wurde angemahnt (auch von Kluge). Aber er blieb aus. »Väter und Söhne« hieß später ein Film von Bernhard Sinkel.
»Die damals herrschende so genannte deutsche Filmindustrie war ja mit nichts in der Welt vergleichbar, in Bezug auch auf Provinzialität und thematische Armut.« (Edgar Reitz)
Man wollte die neue Sprache und innovative Form des Autorenkinos, wie das New American Cinema und wie in Frankreich, wo Cineasten um Chabrol, Godard, Resnais, Rivette und Truffaut die »Welle« machten. Perfektion war (noch) nicht das Ideal. Eher galt es, sich ihr zu widersetzen. Das Unfertige. Der Bruch der Geschichte fordert Brüche in den Geschichten. Visuell und inhaltlich.
Für den Neuen Deutschen Film hieß das vorrangig: Auseinandersetzung mit dem Nazitum, seinem Erbe in der Nachkriegs- und Aufbaugesellschaft, einer formierten, repressiven Gesellschaft, sowie aktive – und subjektive – Teilnahme an der Gegenwart und die Gegenbewegung aus dem Geist der 68er-Revolte. Daraus wuchsen triumphale Welterfolge mit den späten Exponenten »Die Blechtrommel« und »Die Ehe der Maria Braun« und die Epoche erfassenden, provozierenden, politisch positioniertem, oft auch autobiografisch geprägten Werken wie »Deutschland im Herbst«, »Die bleierne Zeit« und »Die dritte Generation«.
Oberhausen 1962 war Impuls und Ausdruck für Selbstfindungs- und Entwicklungsprozesse. Für zwei Jahrzehnte (im Juni 1982 stirbt Fassbinder) wird man sich am ehesten finden im Exzentrischen, Exterritorialen, Extremen, vom Mittelweg Entfernten, im sozialen Sperrbezirk und im Ausnahmezustand. In den Kinski-Charakteren bei Herzog, in Fassbinders Frauen und sexuellen Grenzgängern, in Wenders’ Reisenden mit ihrem Fernweh, in Schroeters männlichen und weiblichen Diven, in Helma Sanders-Brahms’ Schmerzens-Müttern, in Edgar Reitz’ Heimattreuen und Heimatlosen. Geburtshelfer des Anderen Kinos heißen Rosa von Praunheim, Ulrike Ottinger und Ulla Stöck, Helmuth Herbst, Werner Nekes und Harun Farocki. Die Reihe der Randfiguren, jungen Rebellen, Sonderlinge, Außenseiter, Märtyrer ist lang. Oberhausen hatte sich die Freiheit genommen. Heute scheint sie abgegriffen.
Die 58. Kurzfilmtage (26. April bis 1. Mai 2012) begleiten mit dem Projekt »Provokation der Wirklichkeit« das Jubiläum, auch mit einer extra Website, mit Informationen, Videos, Fotos und Texten. Vorbereitet wird eine Edition mit damaligen Kurzfilmen der Oberhausener Manifestler. Der Filmemacher Max Linz hat dazu die Serie »Das Oberhausener Gefühl« entwickelt, die fragt, was vom Aufbruch blieb. www.oberhausener-manifest.com