TEXT: ANDREJ KLAHN
Der Abschied von den Eltern ist ein andauernder Prozess. Er fällt nicht mit jenem Tag zusammen, an dem das Kind seine Koffer packt und mit dem Pritschenwagen von der Auffahrt rollt. Lange vorher hat die Ablösung eingesetzt, ganz vollendet ist sie nie. Sebastian Polmans’ »Junge« setzt sich am Ende des gleichnamigen Debüt-Romans auf das Rad, um davon zu fahren. Nach Tokio möchte er, die geschätzten 20.000 Kilometer bis dahin hat er sich mit einem roten Stift im Atlas mehrfach nachgezogen, die Seite herausgerissen und in die Jacke gesteckt. Auf Komik ist Polmans mit dieser eklatanten Unverhältnismäßigkeit der Mittel nicht aus. Es soll ein Ausbruch sein: aus der provinziellen Enge des Dorfes, in dem die Schützen sonntags in Uniform zur Kirche paradieren und geschlachtete Kaninchen an der Wäscheleine im Garten ausbluten. So weit, so bekannt.
Doch ist das Dorf im »Kleinniemandsland im Westen«, gelegen nahe der deutsch-niederländischen Grenze, keineswegs eine dieser miefigen Höllen, die in Anti-Heimatromanen Künstlernaturen zum Kochen bringen. Obwohl der Junge, so nennt der Erzähler den Jugendlichen, dessen Alter und Namen wir nicht erfahren, ganz offensichtlich ein verschlossener Sonderling ist. Dünn von Gedankenschwere, wie der Onkel mit jovialer Penetranz behauptet, der ihn ein verzogenes »Weichei« nennt. Da hilft auch das Fußballtrikot nicht, das der »Junge« ständig trägt.
Sebastian Polmans’ Grundton ist kein wütender, sondern ein traurig-irritierter. Seinem Jungen, der sich wundert, dass er in diesem Dorf hat leben können, geht etwas verloren, Vertrautheit, ja: Zugehörigkeit, unwiederbringbar. Er steht auf dem Feuerwachturm am Rande des Nato-Sperrgebiets, späht in die Landschaft, die Polmans in immer neuen Anläufen leuchtend trübe ausmalt, bis plötzlich etwas einreißt. Fortan rauscht es im Kopf des Jungen, ein Geräusch, das mit Fortgang des Romans zu einem Lärmen anschwillt und auffällig mit der Ereignislosigkeit der Handlung kontrastiert. Da ist jemand die Welt aus den Fugen geraten, der Puls jagt hoch, draußen aber ist Ruhe.
Der 1982 in Mönchengladbach geborene Polmans zieht den jugendlichen Abnabelungsprozess auf wenige heiße Sommertage und kaum erwähnenswerte Ereignisse zusammen. Nichts geschieht, doch die Atmosphäre dieses Romans ist von latenter Bedrohlichkeit. Detail- und beschreibungsversessen, die Vergleichsmetaphorik bisweilen überstrapazierend, schildert der Erzähler all die unspektakulären Dinge des Alltags, die äußere Welt, an deren Existenz sich der »Junge« mit allen Sinnen geradezu festzuhalten scheint. Doch diese Oberfläche bekommt merklich größere Risse. Bisweilen scheint die Wahrnehmung expressiv halluzinatorisch verzerrt, oder sie öffnet sich auf eine kindliche Phantasmagorie hin.
»Kindheit ist das Reich, worin niemand dir stirbt«, so übertrug Rudolf Borchardt eines der berühmtesten Gedichte Edna St. Vincent Millays. In »Junge« geht diese Zeit mit dem Tod des Großvaters zu Ende. Ausgerechnet zu den Großeltern hatte der Junge sich immer geflüchtet, um das Läuten der Totenglocke im Dorf nicht hören zu müssen. Denn dann, so die unschuldige Überzeugung, müsse auch niemand sterben. Die Vertreibung aus diesem Reich ist also schon geschehen, bevor der »Junge« selbst aus ihm fliehen kann. Deshalb auch die Wut auf der Fahrt zum Totenbett. Für den Tag danach war der Aufbruch geplant. So aber lässt der Junge die Welt dieses Dorfes als beschädigte zurück. Und das macht Sebastian Polmans‘ Roman zu einem sehr reifen Buch über das Heranwachsen.
Sebastian Polmans, »Junge«; Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 195 S., 17,90 Euro.
Buchpräsentation am 20. Okt. 2011 Theater in »Die Wohngemeinschaft« in Köln