Ob es ihr morgen Vormittag recht sei mit einem Besuch. Nein, das sei doch der erste Sonntag im Monat. Und da habe sie – ja richtig: Bei Hanna Jordan trifft sich einmal monatlich sonntags eine Gruppe von Menschen aus Wuppertal und dem Bergischen Land zur Andacht. Sie gehören, wie Hanna Jordan, zu den »Quäkern«, einer im 17. Jahrhundert in England gegründeten Religionsgemeinschaft. Dieser Termin ist Hanna Jordan heilig, noch nie hat sie ihn ausfallen lassen. Denn die Quäker haben ihr Leben geprägt.
Hanna Jordan wurde am 3. April 1921 in Wuppertal in ein »offenes Haus« hineingeboren: Die jüdische Mutter Henriette Jordan und der »arische« Vater Franz Jordan versammelten dort Freunde und Verwandte aus unterschiedlichen sozialen Klassen, Menschen mit verschiedenen religiösen und politischen Überzeugungen sowie Künstler aller Sparten. Es muss eine höchst kreative Atmosphäre geherrscht haben, Kunst, Hausmusik, Theater, Literatur gehörten zum täglichen Brot.
Hanna genoss eine Erziehung zur Freiheit des Denkens, Glaubens und Handelns, zu Disziplin ohne Drill, liebevoll und ideologiefrei – »keineswegs antiautoritär«, sagt die Hochbetagte heute im Rückblick, »da wurde nicht auf den Teppich gespuckt.«
In dieser Umgebung entwickelte sich schon früh die große künstlerische Begabung Hanna Jordans. Sie malte, zeichnete, modellierte oder komponierte kleine mehrstimmige Stücke der »lieben Mutter zum Muttertag«. Mit zwölf Jahren hatte sie ihre erste Ausstellung in einer Bücherstube.
Die Atmosphäre des Elternhauses setzte sich nach der Grundschulzeit in einem Internat in Holland fort. Die hellsichtigen Eltern hatten die politischen Zeichen richtig gedeutet, sie brachten 1935 ihre Tochter nach Ommen in das Internationale Quäker-Internat »Schloss Eerde.« Hier fanden viele jüdische Kinder aus Deutschland einen Unterschlupf. Zusammen mit Kindern aus Diplomatenfamilien und von englischen Quäkern erlebte Hanna Jordan die »vielleicht schönsten Jahre meines Lebens«, von 1935 bis zum Abitur 1939.
Die Quäker-Pädagogik war musisch ausgerichtet. Neben den theoretischen Lernfächern wurde gleichberechtigt Kunst und Musik unterrichtet. Für Hanna Jordan ein Glücksfall. Hier entwarf und fertigte sie ihre ersten Kulissenbilder für die Schulaufführungen, hier sammelte sie die ersten Erfahrungen auf dem künstlerischen Feld, das zu ihrer Berufung werden sollte. Denn für sie stand bald fest: Ich will Bühnenbildnerin werden.
Heute sagt Hanna Jordan über ihre Schulzeit in Eerde, dort seien Maßstäbe für ihr Leben gesetzt worden durch Literatur, Philosophie, Musik und bildende Kunst. Darüber hinaus habe sich jüdischer Witz mit englischem Humor gemischt, wie sie es später nie wieder erlebt habe. Zusammen mit ihrem Elternhaus sei diese Zeit »Basis für alles Weitere« gewesen: »Wenn man das erleben durfte, dann kann man sehr viel aushalten.«
Als Hanna Jordan 1939 zurück kam nach Wuppertal, konnte sie nicht ahnen, was sie und ihre Familie alles würden aushalten müssen. Die geplante Auswanderung nach England misslang, weil der Zweite Weltkrieg ausbrach. Hanna versuchte ein Studium für ihren Traumberuf zu beginnen. Die Aufnahmeprüfung an der Düsseldorfer Kunstakademie bestand sie mit Glanz. Nach drei Monaten allerdings wurde sie als »Mischling ersten Grades« von der Akademie entfernt. Die Reichskulturkammer hatte ein Hochschulverbot für alle jüdischen Studenten erlassen. Nach einem kurzen Gastspiel in der Bühnenbildklasse der Folkwangschule in Essen wurde Hanna Jordan zum »Kriegseinsatz« in eine Wuppertaler Rüstungsfabrik bestellt. Eingesetzt als technische Zeichnerin, musste sie Gaskessel zeichnen, Teile von Unterseebooten.
Es waren Jahre der Vorsicht, Angst, Entbehrung, des Hungers. Noch war die Familie nicht unmittelbar bedroht. Aber fast täglich wurden die Jordans konfrontiert mit Bitten von Menschen, die in Not und Lebensgefahr waren, die versteckt werden mussten. In dieser dunklen Zeit lernte die Familie in Wuppertal Menschen kennen, die ganz selbstverständlich, oft unter Einsatz ihres Lebens, halfen, die ein ganzes Netz im Untergrund spannten, um Verfolgte und Hilfsbedürftige aufzufangen. Vielfach waren es Quäker, die im Widerstand tätig waren. Deshalb war es für sie nach dem Krieg bis heute wichtiger, von diesen mutigen Menschen zu erzählen, ihnen ein Denkmal zu setzen, als von den eigenen Leiden zu reden.
Quäker waren es auch, die im letzten Kriegsjahr Hanna Jordan und ihre Mutter rechtzeitig versteckt haben. Zuerst in Wuppertal, dann im Bergischen Land. Der Vater kam in einem süddeutschen Kloster unter. Denn vom Herbst 1944 an wurde jeder jüdische Bürger von den Nazis erfasst und abgeholt. Viele Freunde und Verwandte der Jordans sind ermordet worden.
Kriegsende in Wuppertal: Zuerst räumte Hanna Jordan zusammen mit ihrer Mutter Henriette in Wuppertal Trümmer weg und gründete mit Hilfe von internationalen Quäkern ein »neighbourhood-center« nach amerikanischem (Quäker)-Vorbild. Dieses Nachbarschaftsheim arbeitet bis heute als Treffpunkt »der Begegnung und Selbsthilfe« für Kinder, Jugendliche, Senioren, Ausländer.
Und dann ging Hanna Jordans größter Wunsch in Erfüllung: Sie wurde gleich ans Wuppertaler Theater als Bühnenbildnerin engagiert. Zuerst auf einer provisorischen Spielstätte, dann am Theater an der Bergstraße entwarf sie Bühnenbilder und Kostüme »am laufenden Band«, manchmal folgten die Premieren im Abstand von drei bis vier Wochen. Ibsen, Hebbel, Shakespeare, Goethe, Kleist, Büchner, Schiller, Camus, Brecht, Shaw – große Namen und große Stücke, daneben kleine Komödien. »Die Menschen hungerten nicht nur nach Brot, sondern auch nach Kunst«, sagt Hanna Jordan und kann stundenlang Geschichten erzählen, vor allem aus der Anfangs- und Aufbruchzeit nach dem Krieg. Wie sie improvisiert hat, weil es kein Material gab, wie sie Tage und Nächte gearbeitet haben, wie sie stundenlang zu Fuß durch die Stadt gelaufen ist, weil keine Straßenbahn fuhr.
Hanna Jordans Arbeitspensum war auch später immens: Bühnenbilder und Kostüme in Wuppertal, im Schauspiel, in der Oper. Gastspiele an den großen Theatern der Republik. Zusammenarbeit mit namhaften Regisseuren: Helmut Henrichs, Günther Lüders, Hans Bauer, Peter Palitzsch, Arno Assmann, Wolfgang Liebeneiner. Mit Rudolf Noelte hat sie in den 60er Jahren Theatergeschichte geschrieben: Tschechows »Drei Schwestern« und »Kirschgarten« wurden mehrfach ausgezeichnet. Mit Imo Moszkowicz hat sie Theaterstücke inszeniert, vor allem aber mit ihm das neue Medium Fernsehen – vorrangig das Fernsehspiel – gestalterisch erfunden. Anfang der 70er Jahre zog sie sich vom Schauspiel zurück, weil ihr »das Gemähre, das Palaver« der Mitbestimmung an den Theatern gegen den Strich und auf die Nerven ging. Sie, als überzeugte Linke, sah »mit Entsetzen«, wie »sämtliche Bande im Theater aufgelöst« wurden. »Das nannten sie dann Demokratie und Freiheit«. Sie wusste schon damals: Mitbestimmung in der Kunst geht nicht. So arbeitete Hanna Jordan in den nächsten Jahrzehnten (bis 1995) vor allem mit den Opernregisseuren Kurt Horres und Friedrich Meyer-Oertel höchst erfolgreich zusammen.
Waren ihre ersten Bühnenbilder »eher konventionell realistisch«, so fand sie schon früh zu einfachen, abstrakten Formen. So zum Beispiel 1952 Schillers »Wilhelm Tell«: aus geometrischen Flächen der Raum, veränderbar mit Blick auf die hohle Gasse oder die Schweizer Berge. Sie schöpfte damals aus ihrer Erfahrung mit dem Expressionismus und Kubismus. Wichtig war zeit ihres Lebens, den Zuschauern etwas anzubieten, »was Aufschluss gibt über die inneren Zusammenhänge des Stückes.« Da hat sich kein auf den ersten Blick erkennbarer Stil entwickelt, aber dennoch eine persönliche Handschrift. Die »Kunstausübung Bühnenbild« hat Hanna Jordan immer als »dienend« verstanden: »tief in das Werk einsteigen und dann die eigene Persönlichkeit einbringen.« So gab sie »Cosí fan tutte« den flirrenden Zauber südlicher Landschaft und Stimmung, die das heitere Spiel unterstützte, am Ende aber fast weh tat; dem »Don Giovanni« einen eher abstrakten düsteren Raum. Mozart liebte sie, Wagner respektierte sie hoch, ging aber nicht selten ironisch mit ihm um. In Erinnerung werden aber auch die zeitgenössischen Opern bleiben: für Volker David Kirchners »Die Trauung«, der Geschichte von Soldaten, die im Krieg umgekommen sind und sich an ihr Leben erinnern, baute sie eine Schräge mit einem Boden, der aus alten Uniformen zusammengesetzt war – ein Totenfeld, das sich später zu einem Kirchenraum fügte. Für die (geträumte) Trauung schwebte ein riesiger Kardinalshut von der Decke mit zwei Scheinwerfern als Augen. Ein grandioses Bild. Oder Aribert Reimanns »König Lear«. Das Schloss des Königs verwandelt sich auf offener Szene in Wildnis, Wüste, die Heide. Für Sturm und Gewitter hatte Hanna Jordan einen Himmel mit schwarzen Plastikbahnen gemacht, die sich bewegten und mit Lichteffekten das Unwetter verstärkten. Szenenapplaus bei jeder Vorstellung.
Regisseure und Kritiker lobten stets ihre konstruktive Begabung, ihr architektonisches Empfinden, das »Aufspüren eines umfassenden Raumes, den ein Stück für seinen Atem, seine Aktionen benötigt« (Hellmuth Karasek 1965). Ihren persönlichen Raum, ihre Wohnung im zweiten Stock ihres Elternhauses, verlässt Hanna Jordan heute kaum noch. Sie schreibt und zeichnet Bildgeschichten für die Quäker-Zeitschrift, übersetzt aus dem Englischen, mischt sich am Telefon in aktuelle Probleme der Stadt ein, und wenn es um die Vergangenheit geht, folgt sie ihrem lebenslangen Motto, nicht »als Verfolgte, sondern als Versöhnerin« durchs Leben zu gehen. Fast täglich, das ist ihr wichtig, empfängt sie in ihrem offenen Haus Gruppen und einzelne Freunde, junge und ältere Menschen zum Gespräch. Hanna Jordan ist längst eine Institution in Wuppertal.
Anne Linsel ist Autorin der Monografie: Weltentwürfe. Die Bühnenbildnerin Hanna Jordan; Klartext Verlag, Essen 2006, 150 S., zahlreiche, teils farbige Abbildungen, 19,90 €