Wie üblich, beginnen solche Missionen mit dem Anruf einer Miss Moneypenny. In diesem Fall sitzt die in der Zentrale des Goethe- Instituts. »Wir hätten da einen Spezialauftrag für einen erfahrenen Senioren«, sagt die Stimme. Am anderen Ende der Leitung, im winterlichen Köln 2004, hört der DJ und Musikproduzent Hans Nieswandt, Jahrgang 1964, zu. Die Sache sei ein bisschen heikel, lässt der Gesprächspartner aus München wissen. Denn Nieswandt soll als erster DJ durch den Nahen Osten touren, es gehe darum, »das Wasser zu testen. Ob das überhaupt sinnvoll ist, ob diese Kultur funktioniert in der arabischen Welt.« Vorgesehen seien »Operationen« in Gaza-Stadt und Ramallah, bei denen elektronische Musik aus Deutschland »zum Einsatz gebracht werden« soll.
Mit diesem Agenten-Kolportageversatzstück beginnt Hans Nieswandts Bericht über eine Reise durch den Nahen Osten: »Von Checkpoint zu Checkpoint«. Er findet sich neben zwölf weiteren zwischen Reportage und Erzählung changierenden Texten in »Disko Ramallah «, Nieswandts neuem Buch über »merkwürdige Orte zum Plattenauflegen «. Neben Rio de Janeiro und Beirut begegnen dem Leser darin auch so »merkwürdige« Orte wie Düsseldorf und Köln. Die geografische Lage der Städte, in denen er auftritt, ist eher unwichtig für die Auswahl der Stationen, die der ehemalige Spex-Redakteur zu Papier bringt. Und doch: Wollte man sich – so ironisch wie Nieswandt selbst – der Rhetorik militärischer Auseinandersetzung bedienen, dann ließe sich »Disko Ramallah« als Geschichte einer Landnahme beschreiben. Ein Terraingewinn, der auf Weltkarten nicht nachgezeichnet werden kann. Die Richtung verläuft weder von Westen nach Osten, noch von Norden nach Süden. Ziel ist die Eroberung eines kulturellen Reservats, die von unten nach oben voranschreitet. Denn sie führt aus dem popkulturellen Underground heraus, hinauf auf die vermeintlichen Höhenkämme jener übervölkerten terra incognita, auf der sich die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft vergnügen. Wer wie Nieswandt seit 1994 im Auftrag des Goethe-Instituts sonst wo hin reist, um Workshops abzuhalten und Platten aufzulegen, darf sich ziemlich sicher sein, dass er auf diesem Weg schon ein gutes Stück vorangekommen ist.
Hans Nieswandt ist nicht erst seit gestern als DJ ein gefragter Spezialist für »hochmoderne, schlaue Funktionsmusik«. So bezeichnet er selbst in »Disko Ramallah« sein Material. Andere nennen das, was herauskommt, wenn er sich als Musikproduzent betätigt, »Autorenelektronik «. Damit mag gemeint sein, dass Maschinen, wenn Nieswandt sie handhabt, für künstlerische Individualität empfänglicher sind, als gemeinhin angenommen wird; oder dass Nieswandt ein bisschen ausgeklügelter und bewusster an die Arbeit geht. »Autorenelektroniker « steigen nur selten wirklich hoch in die Charts ein. Im Falle Nieswandts allerdings gibt es eine wirklich große Ausnahme: der Track »From: Disco To: Disco«, den er zusammen mit Eric D. Clark und Justus Köhncke als Whirlpool Productions aufgenommen hat, stand im Frühjahr 1997 in Italien unerwartet auf Platz 1.
Wie es sich anfühlt, auf der dann flugs organisierten Promotion- Tour dem Image der angeblich immer betrunkenen deutschen Spaßcombo gerecht werden zu dürfen, schildert Nieswandt in »plus minus acht«, seinem ersten Buch über »DJ Tage DJ Nächte«. Zweifellos ist diese kleine Tournee durch italienische Fernsehshows und Großraumdiscos ein wahnsinniger Erfolg gewesen. Nieswandt war sie wohl nicht erst im Rückblick aber vor allem eines: zugleich absurd, peinlich und sensationell – merkwürdig also. So wie es auf die ein oder andere Weise alle Begebenheiten sind, von denen nun »Disko Ramallah « handelt. Fast immer aber und in aller Bescheidenheit erzählen sie indirekt auch vom Angekommensein, vom Selbstverständlichwerden einer Subkultur, egal ob sich der Botschafter für Elektronische Musik aufmacht, um in fernen Länder »kulturelle DJ-Konzerte« zu geben oder ob der House-DJ eine Hochzeitsgesellschaft in Amsterdam mit Disco versorgt.
»Einerseits stimmt es, dass ich auf gewisse Weise angekommen bin«, bestätigt Hans Nieswandt. Es ist gerade mal 12 Uhr, also noch reichlich früh für jemanden, der gewohnt ist zu arbeiten, wenn andere im Bett liegen. Die Wände seines Stammcafés in Köln Ehrenfeld sehen noch immer oder schon wieder so aus, als wären die Tapeten irgendwann in den 70ern verklebt worden. Andererseits, fügt Nieswandt hinzu, habe er dann auch wieder nicht das Gefühl des Angekommenseins, weil der Job nicht erledigt sei. »Das hängt nämlich nicht nur davon ab, welche Strömungen sich durchsetzen. Ich sehe meine Arbeit als Dienstleistung, die immer weitergehen muss. Es muss weiter aufgelegt und produziert werden.« Und dann folgt einer der wenigen Sätze in diesem Gespräch, in dem ein wenig Pathos mitschwingt; ein Gefühl übrigens, das Hans Nieswandt nicht mag. »Ich will niemanden mit elektronischer Musik missionieren. Doch alle Menschen auf der Welt, die diese Musik hören wollen, sollen das auch dürfen. Das ist der entscheidende Punkt.«
Natürlich kann man sich fragen, ob die Bewohner Palästinas nicht andere Probleme haben als die Unterversorgung mit elektronischer Tanzmusik. Nicht trotzdem, sondern gerade weil das so ist, hat sich Hans Nieswandt dann auf den Weg gemacht. Durchaus von Vorteil für diese Mission war, dass der deutsche DJ sich bisweilen gefragt hat, ob andere in seiner Reise nicht doch eine »üble Form des Kulturimperialismus « sehen könnten. »Ich bin keineswegs die Symbolfigur für den exzessiv westlichen Bauchfrei-Lebenswandel«, sagt Hans Nieswandt. Im Übrigen sei es ihm auch immer wichtig gewesen, zu vermitteln, dass Clubkultur nicht nur ein Wochenendvergnügen ist. »Ein Club kann zu einem utopischen Ort werden, zu einem Ideal von sozialem Zusammensein. Es ist keine unwichtige Errungenschaft, wenn man als Frau sexy und trotzdem angstfrei ausgehen kann. Dazu hat auch die Disco-Kultur beigetragen.«
Die Einsicht, dass die Zeit längst vorbei ist, in der Abenteurer nicht wussten, was sie in der Ferne zu erwarten haben, ist wahrlich nicht neu. Dennoch ist es hier nötig, daran zu erinnern. Schließlich macht sich nicht alle Tage einer auf, um mit einem Plattenkoffer und einer 1,60 Meter langen, 80 Kilo schwere DJ-Konsole – allein in technischer Hinsicht kann sich der Reisende dann doch nicht so sicher sein, was er vorfinden wird – in einem Krisengebiet herumzutouren. Um sich dann aber wie selbstverständlich durch die einheimische Szene zu bewegen. Denn lange vor Hans Nieswandt ist das Rollenmodell DJ dort angekommen, ein offensichtlich bis in den letzten Winkel globalisiertes Image. Weshalb weltanschauliche Distanzen unter musikalisch Gleichgesinnten mühelos überbrückt werden können. Befragt nach den Unterschieden, die er im Vergleich der Clubkulturen bemerkt habe, spricht Nieswandt dann auch nicht von Differenzen, sondern von Überbietung. Häufig seien die Leute exzessiver und enthemmter gewesen, Feiern habe oft eine andere Qualität als in Deutschland. Durch die Sicherheitsschleusen bekomme man ein Gefühl dafür, wie real die Bedrohung sei. »Wenn du dann aber drin bist, hast du das Gefühl, dass die Drinks besser schmecken und die Musik besser groovt.«
Doch es geht in »Disko Ramallah« nicht nur um die friedfertige Implementierung ambitionierter elektronischer Musikunterhaltung in nahöstliche Kampfzonen. Denn das scheint schon längst geschehen. Mehr oder weniger gilt auch hier: Ein Club ist ein Club ist ein Club – egal ob der nun in Hamburg, Köln oder Beirut steht. Bizarrer sind Nieswandts Missionen, wenn es etwa eine Spinat-Promo-Party mit Musik zu versorgen gilt oder im Anschluss an Karlheinz Stockhausens Salzburger Konzert für vier Helikopter und vier Streicher die Afterparty beschallt werden muss. »Es ist bisweilen hart, vom Künstler zum Dienstleister zu werden. Aber wenn alles gut läuft, beschert man Menschen einen magischen musikalischen Moment, mit dem sie gar nicht gerechnet haben«, schreibt Nieswandt im Vorwort über derlei Ausflüge, bei denen ihm durchaus zugute kommt, dass er nicht nur das auflegt, was alle eh schon kennen. »Ich spiele grundsätzlich niemals Platten, die ich nicht mag. Wenn eine Autofirma kühle Elektronik haben möchte, weiß ich in der Regel ohnehin besser, wie sich das anzuhören hat«, sagt er. »In meinem Fall kaufen die Auftraggeber Expertenwissen. Wenn ich mir einen Abend in einem 5-Sterne-Restaurant leisten möchte, gehe ich da nicht hin, um ein paniertes Schnitzel zu bestellen, und ich erkläre dem Koch nicht, wie er Saucen zu machen hat. Aber man sollte Musik besser nicht mit Essen vergleichen.« Es gehört zu den wesentlichsten Eigenschaften des avancierten Spezialistentums, dass die Unwissenden nicht immer alles verstehen, was vor sich geht. Das kann nach frustrierenden Abenden, in Nächten, in denen der Dancefloor leer und der DJ frustriert zurück bleibt, durchaus ein Vorteil sein: »Das mea culpa, sagt Nieswandt, kommt immer von den Veranstaltern.« Mehr noch als »plus minus acht« dokumentiert »Disko Ramallah«, dass der subkulturell sozialisierte Künstler Hans Nieswandt, der seit zwei Jahren immer mittwochs die Hörer von Eins live mit seinen »Elektronischen Melodien« ein Stück durch die Nacht begleitet, auch dort angekommen ist, wo in der Regel einfachere Musik gefragt ist.
Nicht, dass er da hat immer hinwollen. Zweifellos hat es aber auch seine angenehmen Seiten, dass sich im Laufe der Zeit auch diese Form von Erfolg eingestellt hat. Zumal Nieswandt mittlerweile in einem Alter ist, in dem es ihm nicht immer leicht fällt, sich darüber zu freuen, dass die Veranstalter für sein Set die vermeintlich beste Zeit nachts um halb drei reservieren. »Disko Ramallah« – das ist also endlich mal eine gute Nachricht aus dem Dienstleistungssektor. Zumindest für die, die den Job machen müssen. Mag sich die Promohäschen-Spinat-Welt auch noch so schnell um den »DJ-Dienstleister« drehen, ihm kann’s egal sein. Schließlich steht er im Bann der stetig rotierenden Plattenteller und konzentriert sich auf die Musik. Man kann es auch so sagen: »Ich kann einen ziemlich guten Job machen, wenn mir niemand dabei reinquatscht.« //
Hans Nieswandt, »Disko Ramallah«, Kiepenheuer & Witsch, 224 S., 8,95 Euro