TEXT: ANDREJ KLAHN
Wenn die Jahresrückblicke uns im Dezember wieder daran erinnern, dass zwölf Monate viel zu schnell vergehen, werden ganz sicher auch Bilder vom Bundestagswahlkampf zu sehen sein. Vermutlich wird das Peer-Steinbrück-zeigt-den-Mittelfinger-Cover noch mal aus dem Archiv geholt, das Generationen von Kampagnen-Strategen künftig als abschreckendes Beispiel dienen wird. Auch die auf dem SPD-Parteikonvent vergossenen Tränen des Herausforderers bleiben den Zuschauern wohl nicht erspart. Und vielleicht bietet diese Rückschau dann ja auch noch einmal Gelegenheit, sich zu fragen: Was ist da eigentlich im Wahlkampfjahr so politisch passiert? Um welche Themen ging es? Ging es überhaupt um Themen? Oder ganz einfach: War da was?
Eben diese Fragen legt sich auch Nils Minkmar in »Der Zirkus« vor. Der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war »ein Jahr im Innersten der Politik« unterwegs, so der Untertitel seines klugen Buches, das zwischen Reportage, Analyse und Essay changiert. Minkmar ist mit Peer Steinbrück auf Wahlkamptour gegangen, bewegte sich in dessen Entourage, hat ihn durch Stadthallen und Hinterzimmer begleitet. Dass eingebetteter Journalismus eine heikle Angelegenheit ist, verschweigt Minkmar nicht. Doch Steinbrück habe ihm keine Bedingungen gestellt. Weder habe er die Zitate autorisieren, noch das Manuskript gegenlesen wollen. Nur eines habe Steinbrück verlangt: Der Journalist solle das Buch so schreiben, wie er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne.
Das klingt überraschend sympathisch für einen Mann, der durch die Medien lange als Problem-Peer geisterte. Aber es passt zum Porträt des Kanzlerkandidaten als ehrenwerter, intelligenter Politiker älterer Schule, das Minkmar von Steinbrück, dem »Dödel der Nation«, zeichnet. Wochen nach der für die SPD krachend verloren gegangenen Wahl wäre so etwas kaum von Interesse, wenn Minkmar die Annäherung an Steinbrück nicht Anlass wäre, vom Zustand unserer Gesellschaft und Demokratie zu handeln. Den Wahlkampf lässt er als Symptom Revue passieren. Dazu zählt die anhaltende Beliebtheit der Kanzlerin nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Scheu, sich programmatisch festzulegen; oder der mediale Filter, durch den lange Zeit nur Meldungen von Steinbrück-Pannen drangen genauso wie die Irrelevanz der Themen, die im Wahlkampf eine Rolle spielten. Statt über die Euro-Krise, Klimaschutz oder die Aushöhlung des Rechtsstaats wurde über Autobahnmaut, Veggiedays und Pädophilie gestritten.
Worauf weisen diese Symptome? Obwohl die Zirkus-Metaphorik es vermuten ließe, variiert Minkmar nicht den Erlebnisgesellschafts-kritischen Gassenhauer, Politik neige zunehmend zur Verflachung und zum Entertainment. Das Problem sei weniger, dass Politik zum Zirkus verkommen sei. Besorgniserregender ist, dass sich immer weniger Menschen für die politischen Akrobaten interessierten – es sei denn, letztere stürzen ab.
Minkmars Respekt vor dem Engagement und dem Pensum der Berufspolitiker ist groß. Ebenso wie seine Sympathie für die intellektuelle, weltläufige Spielart der Sozialdemokratie, die einst Peter Glotz verkörperte. Umso schärfer geht Minkmar mit der gegenwärtigen SPD ins Gericht, mit ihrer »aggressiven Biederkeit« und »kulturvierten Wortkargheit«. Steinbrück ist, daran hat der Langzeitbeobachter keinen Zweifel, auch an der Unprofessionalität einer Partei gescheitert, die an ihrer Geschichte leidet. Das Land aber bräuchte dringend eine Alternative zu Merkles Politik der Alternativlosigkeit.
Doch die sozialdemokratische Wurstigkeit allein erklärt diesen merkwürdigen Wahlkampf nicht. Eher schon, was Minkmar in seinem weit ausholenden letzten Kapitel die mediale »Logik der Maximierung des Maximalen« nennt. Sie besagt: Interessant ist immer nur der Sieger – und der stand bei der Wahl mit Angela Merkel schon fest. Diskutiert wird nur, was andernorts schon Thema ist, gezeigt wird, was überall zu sehen ist und von Belang sind eben die Gedanken, die die meisten haben. So beschreibt Minkmar die Gebrauchsanweisung nutzeroptimierter Unterhaltung. Sie basiere auf der Annahme, »dass der Nutzer nicht aus seiner weltanschaulichen Komfortzone herausgeholt werden möchte.«
Mit »Der Zirkus« bricht Minkmar aus eben diesem zyklischen Verhalten seiner Kollegen aus. Sein Buch über den Wahlverlierer leistet, was den Medien immer mehr abhanden kommt: Minkmar geht nahe heran, um dann einen Schritt zurückzutreten, »um zu prüfen, ob das, was alle groß melden, auch wirklich groß ist.«
Nils Minkmar: »Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik«; S. Fischer, Frankfurt am Main 2013, 224 Seiten, 19,99 Euro