TEXT: ANDREAS WILINK
Ein Garten über der Einflugschneise von London Heathrow. Ein Zimmer in einem Flughafen-Hotel. Ein Lagerhaus ebenfalls in Airport-Nähe. Und ein exaktes Datum: 25. Juni, 21 Uhr. Drei mal Leben. Drei Begegnungen zwischen Mann und Frau, drei Dialoge, die jeweils, wie nach abruptem Schnitt, an scheinbar beliebiger Stelle einsetzen. Es endet stets gleich: »Plötzlich Dunkel«. So verlangt es der britische Autor Simon Stephens für sein Episodenstück »Wastwater«. In der Halle Kalk, die Kattrin Nottrodt in kühler Ästhetik mit einem Neonsteg, einer nächtlichen Rollfeld-Fotografie und später einigen Hotelzimmer-Möbeln ausstattet, kehrt der Zeiger einer Uhr immer wieder auf Punkt Neun zurück, wenn eine Szene beginnt. Manchmal braust Fluglärm auf.
Zu Stephens’ Technik und raffiniert einfachen Dramaturgie gehört, dass man eine Weile im Dunkeln tappt über die Beziehungen der Figuren, bis man kapiert, was sie miteinander zu tun und zu verhandeln haben. Es gibt ein paar Fäden, die die Personen der drei Geschichten in ein loses Geflecht knüpfen. Aber das ist nicht wichtig. Es geht in extremer Verdichtung um Konfrontation mit dem Ungewohnten, um Entscheidungen, die längst getroffen wurden, doch nun konkret werden, um Brüche in Biografien, um Worte, die Löcher in die Stille reißen. Es wird kein Übersinn produziert, sondern eine Situation läuft einfach ab und muss in ihrem reinen Vollzug bewältigt werden. Puzzleteile ergänzen sich zum vollständigen Bild: zuerst dem von Harry und Frieda.
Wir erfahren, dass Harry kurz vor der Abreise nach Kanada ist; dass er oft eine SMS auf sein Handy erhält; dass er das Haus in Middlesex verlässt, wo vermutlich eine neue Startbahn gebaut wird; dass ein Gavin existierte, der bei einem Unfall starb; dass es mal eine Akte über Harry gab; dass Frieda seine Pflegemutter ist, die den angenommenen Sohn noch wie einen kleinen Jungen behandelt. Carlo Ljubek lässt ihn auf dem Fleck tänzeln, die Hände in seine Taschen gebohrt. Eine Verlegenheitslösung. Wie überhaupt die drei Männer unsicher, halbmündig, dünnhäutig, etwas verdruckst in ihren Körperhüllen stecken, während die Frauen, angefangen bei Anja Lais als Frieda, tough sind: Energieträgerinnen, Impulsgeberinnen, Tempomacherinnen. Versehrt aber sind beide Geschlechter: Biografie – eine Last.
Das gilt auch für Mark und Lisa. Im Hotelzimmer treffen sie sich zum Sex – keinem Blümchensex. Er unterrichtet Kunst. Sie ist Polizistin, hat früher Heroin gespritzt und Pornos gedreht. Sie trinken Champagner und zögern heraus, worauf es hinauslaufen soll. Ein Match: Die Offensive liegt bei Judith Rosmair, die lässig und geschmeidig umhertigert, während Christoph Luser in klammer Anspannung lieb, lustvoll und etwas unfroh wirkt. Zwischendurch erzählt Lisa vom Wastwater-See im Lake District, dass er schrecklich still, aber diese Stille irgendwie gelogen sei. Da unten seien viele Leichen versteckt. Stephens lässt es unter der ruhigen Oberfläche brodeln. Der Anschein von Konventionalität, Geschäftsmäßigkeit und Formalitäten trügt. Jeder ist gefangen in sich, determiniert durch das, was ihm in den Knochen steckt. Eine gewisse Scheu vor körperlicher Begegnung vereint die Paare. Das Defizit emotionaler Direktheit hüllt sich in seltsame Bitten, Wünsche, Aufforderungen oder letzte Worte. Das trifft auch auf Sian und Jonathan zu: Sie ist bei Pauline Knof gefährlich selbstbewusst und brutal gemein zu dem von Martin Reinke feinnervig gespielten Jonathan, der in der Rolle eines Delinquenten in einem Verhör zu sein scheint. Vorbereitet wird eine illegale Transaktion: Kinderhandel.
Die drei Konzentrationsübungen verlangen minutiöses Timing, eine präzise Choreografie der Gesten, Rhythmusgefühl für Tempi, Pausen, Tonfrequenzen. Die Paare – organisiert, kontrolliert und perfekt gelenkt von Regisseur Dieter Giesing – beherrschen ihre Pas de deux. Die Figuren tanzen uns davon – entlassen ins Leben.