TEXT: SVENJA KLAUCKE
»Das Kochen – und Essen – leidet oft darunter, dass zu viel Bauch und zu wenig Kopf im Spiel ist.« Jedenfalls bis Jürgen Dollase kam, der Urheber dieses al dente-Urteils. Er machte die Betrachtung der Kochkunst und des Schmeckens so gründlich von der Bauch- zur Kopfsache, dass er in Rekordzeit zu Deutschlands wohl einflussreichstem Gastro-Kritiker und Theoretiker des Kulinarischen wurde. In Rekordzeit schaffte er es aber auch, das Publikum zu spalten. Als er vor 16 Jahren in seinen Kolumnen in der FAZ und der FAS begann, dem »kulinarischen Analphabetismus« des undifferenzierten »Schmeckt lecker« neue Begrifflichkeiten entgegenzusetzen. Jeder einigermaßen einschlägig Interessierte kennt sie, die »Akkorde«, »Texturen«, »Aggregatzustände« und »Geschmacksverlaufs-Kurven« seiner »modernen Sensorik«.
Einerseits hat der Sohn eines Rektors, Bruder eines Professors und Gatte einer Kunstlehrerin damit Schule gemacht. Nicht zuletzt, gezielt, bei der deutschen Köche-Elite selbst, um ihre Entwicklung hin zu internationaler Bedeutung mit voranzutreiben. Andererseits rief seine neue Art, Gerichte zu analysieren sowie komplexe Prozesse der Geschmackswahrnehmung zu beschreiben, auch Spötter auf den Plan. Für die war seine zumindest anfangs verschwurbelte Sprache so bekömmlich wie Gemüsegirlanden an kurzgebratenem Hirschgeweih.
Gut möglich aber, das selbst hartgesottene Dollasekostverächter jetzt anbeißen bei seinem neuem Buch »Himmel und Erde – In der Küche eines Restaurantkritikers«. Sprachlich klar wie Gletscherwasser, präzise wie ein japanisches Damaststahl-Messer, verzahnt »Himmel und Erde« Theoretisches mit konkreter Praxis, Reflexionen mit Handwerk – mit frappierender Genauigkeit in den Details. 51 Rezepte von einfach bis avantgardistisch, ergänzt um grundsätzliche Überlegungen etwa zur Fleischgarung, zum Restaurant und Essen der Zukunft, oder zu den Potentialen der Neuen Gemüseküche: »Das ist Neuland, da stehen wir erst am Anfang einer riesigen Entwicklung«. Zur Aufwertung eines kulinarhistorischen Stiefmütterchens wie der Steckrübe etwa stellt er allein 25 Bearbeitungen vor, von Räucherrübe bis Steckrüben-Eis. Und wann bekommt man schon mal detaillierte Einblicke in den privaten Küchenalltag eines Großmeisters der Gastrokritik?
Wir treffen Dollase und seine Frau Bärbel in der Düsseldorfer »Dorfstube«, ein Ableger des Hotels und Drei-Sterne-Restaurants Bareiss in Baiersbronn. Hier hatte Dollase mal mit dem Koch die erste Folge seiner FAZ-»Regio-Tapas«-Serie konzipiert. Es fehlt Hund Sophie, »das Kultobjekt in unserem Künstlerhaushalt«. Sonst ist sie immer dabei, auch beim Besuch der nobelsten Restaurants. Immerhin hat Herrchen ihr Poesiealbum, Band IX, dabei, in dem sie Widmungen von Spitzenköchen sammelt.
Dollases Künstlerküche befindet sich in einem ehemaligen Bauernhaus von 1730, im Süden Mönchengladbachs. Mit viel Land, auf dem vielleicht später eine Außenküche gebaut wird. Jetzt schon röstet Dollase größere Teile, z.B. ein ganzes Huhn, über offenem Feuer – Rezepte, die nicht wohnungstauglich sind. Aber alte Gartechniken interessieren den Freigeist ebenso wie die Bewahrung der französischen Klassik oder die Ultra-Avantgarde eines Revolutionärs wie René Redzepi, in dessen Kopenhagener Restaurant »Noma« er neu-regionale Sachen isst: frittiertes Moos mit Pilzpulver oder Blaubeeren mit Paste von fermentierten Ameisen.
Diesen Stil hat Dollase »Nova Regio«-Küche genannt: an Produkte einer Region, auch solche, die nie zuvor jemand gegessen hat, mit innovativen Techniken herangehen. »Im Moment kocht die ganze internationale Avantgarde Nova Regio-Küche,« erzählt er. »Die gehen in den Wald, machen ein Extrakt aus Waldboden und versetzen damit Saucen. Der Fundus an Produktressourcen und was wir damit machen können, wächst ins Unermessliche.«
Zum Thema »Nova Regio« gibt es auch ein Kapitel in »Himmel und Erde«.
Aber auch andere Ess-Erfahrungen überträgt er in die heimische Küchenarbeit, in eigene Rezepte und Experimente. Das beginnt im Buch bei Improvisationen mit dem, was gerade da ist. Was bei einem Gastro-Journalisten auch Proben-Zusendungen sein können, etwa Bärenklaupulver oder Holzkohlensenf. Auch einfache Alltagsprodukte sind ihm wichtig. Etwa Bratwurst, die zu »Bratwurst seriös« mit (Purple-Haze-)Karotten und schwarzem Knoblauch wird. Oder Spaghetti mit »Tomatensauce vertikal«. Ebenso bereitet er komplexe Menüs für Gäste zu mit unglaublichen 30, 35 Elementen pro Gang; darunter etwa seine »Umami-Jakobsmuscheln«.
So ungewöhnlich wie dieses Kochbuch ist die Biografie seines Autors. 1948 in Oberhausen geboren, studierte der großgewachsene junge Mann mit den langen blonden Haaren und einem Selbstbewusstsein, das für drei Stardirigenten ausreichen würde, Musik sowie Kunst an der Kunstakademie Düsseldorf. War dann die 1970er Jahre hindurch erfolgreich als Kopf, Komponist und Keyboarder der Krautrockband »Wallenstein«, samt Welthit »Charline«. Zum guten Essen fand er erst spät. Zwar war er schon lange vor dem Schreiben »ein fanatischer Privatkoch. Das fing so vor 20, 25 Jahren an.« Davor aber rührte der heutige Gourmetgroßkritiker nichts anderes an als Fast Food und Schnitzel. Restaurantbesuche? Undenkbar. Garnelen essen? »Die standen für mich auf einer Attraktivitätsstufe mit Regenwürmern. Ich hatte panische Angst vor solchem Essen.« Dann die Wende, vom Saulus zum Paulus: »Das muss Ende der 80er gewesen sein, im Hafen von Ostende: viele schöne altertümliche Fischrestaurants, aber mich bekam man mal wieder in keins hinein. Da ist meine Frau in Tränen ausgebrochen. Ich kam mir plötzlich vor wie ein Scheusal. Und dann ging alles ganz schnell.«
Dollase entdeckte die Parallelität von Malerei und Musik mit der Kochkunst: »Auch da gab es diese Verbindung von Überbau und Handwerk. Konnte man geistig und praktisch genauso kreativ sein wie in allen anderen ästhetischen Fächern.« Schon in der Kunst und Musik war Dollase, wie er sagt, ein »sehr guter Handwerker«: »Ich habe zu Hause Altmeister-Kopien gemalt, Stillleben aus dem 17. Jahrhundert, die sehen täuschend ähnlich aus.« Nun entwickelte er auf dem Gebiet des Kulinarischen einen »wahnsinnigen Wissenshunger«. Um zu lernen, ging es für das Ehepaar Dollase ab sofort nur in die interessantesten Restaurants. »Also zwei oder drei Michelinsterne, 18 Punkte Gault Millau, und darunter nur, wenn es eine ganz spezielle, kreative Küche war.« Zugleich verschlang der Novize
massenhaft Fachliteratur und Kochbücher, »alles was ich bekommen konnte, auch international.«
Nun gut: das Unvernünftige, Üppige, Leidenschaftlich-Überbordende, etwa starke, intensive Würzen, so etwas hat in Dollases Kochkosmos und kulinarischem Denken keinen Platz. Dazu ist auch seine Sachlichkeit zu extra brût. Trotzdem fasziniert es, sich durch sein »Himmel und Erde«-Privatuniversum hindurchzuprobieren. Diese Wissens-Speisekammer, dieser Vorratsspeicher immenser Erfahrungen eines akribischen Forschers, der jedes Detail hinterfragt. Der nicht nur rund 150 Restaurantbesuche pro Jahr absolviert, sondern sich auch seit vielen Jahren intensiv austauscht mit Küchenchefs wie Harald Wohlfahrt, Olivier Roellinger, Ferran Adria.
Einerseits kann man wirklich etwas lernen. Statt blindem Nachkochen bekommt man einen Zugang zu Gerichten, kochtechnischen Fragen und Prozessen, wie ihn sonst nur Profis haben. Nur die etwas verwegen anmutenden Fleischreifungs-Experimente in des Kritikers Kühlschrank sollte man vielleicht nicht nachahmen. Andererseits sind die Anregungen zur Geschmackssensibilierung inspirierend. Ein einfacher Vorschlag: kleine, unterschiedlich gefüllte »Überraschungskroketten« zubereiten, mit Räucherfisch-Stückchen, Käse, Rosine usw. als Blindverkostung zum Menüauftakt.
Vor allem aber werden die nicht alltäglichen Degustations-Experimente unterschwellig zu allgemeinen Einübungen, Etüden in die Kunst der Konzentration, der Sorgfalt und Sorgsamkeit. Eine solche Meditation in Sachen Geschmacksverfeinerung, ja Sensibilierung des Geistes ist »Reis – Wasser – Essig«. Mit Reis-Crumbles, -Gel, -Törtchen, -Pfeffermehl, mit Reisessig, Ölen und Wassergelee. »Nach landläufigen Kriterien schmeckt das nicht gut. Aber es ist ein grenzwertiges Erlebnis, das die Sinneswahrnehmung von traditionellen Erwartungen und kulinarischem Schub-
ladendenken befreit.« Geistiges Entschlacken. Klosterkulinarik. Du musst dein Essen ändern, denkt man. Jedenfalls ab und zu.
Schon morgens um sechs sitzt Dollase in einer Dachstube seines Bauernhauses, um zu schreiben. Gesellschaftliche Termine nimmt er nur noch wenige wahr. »Sie glauben gar nicht, was ich alles absage. Einladungen zu einer Woche Dubai, eine Woche Tokio.« Keine Zeit, seine Arbeit an neuen Ideen ist ihm wichtiger. »Im Moment arbeite ich an dem Begriff der ganzheitlichen Gourmandise, dem Gourmet der Zukunft. Unsere Esskultur, unsere Essgewohnheiten brauchen einen zivilisatorischen Fortschritt. Sie haben so viele üble Konsequenzen, in allen Bereichen: quälerische Massentierhaltung, -transporte, -schlachtung, ökologische Zerstörung, Krankheiten durch Übergewicht … Die Verschuldensfrage wird falsch gestellt: es sind nicht nur die Produzenten, es sind die Konsumenten. Essen ist keine Privatsache. Das hartnäckige Problem sind Leute, die in abgrundtiefer Dummheit – ›In meinen Geschmack redet mir keiner rein‹ – auf ihre Essensgewohnheiten beharren.«
Der zivilisatorische Fortschritt soll natürlich aus dem Geiste des Hedonismus kommen. Dollase bringt ein kleines Beispiel: »Wenn man auf Foie gras, auf Stopfleber, verzichten würde aus ethischen Gründen – obwohl Generationen von grandiosen Köchen Tausende von Möglichkeiten erfunden haben, damit umzugehen. Dann bitte ich doch jetzt mal darum, dass man die gleiche Anzahl für den Wirsing, realisiert. Damit haben wir überhaupt keine Erfahrungen. In der klassischen Küche gibt es für manche Gemüsesorten gerade mal drei Zubereitungen.« Dazu gehört auch, ein Produkt vollständig zu nutzen. Aus einem Huhn kann man zehn Gänge machen.« Aber die Wurzeln einer Lauchstange, die landen im Müll.
»Machen Sie doch mal ein Tempura von den Wurzeln. Das ist wundervoll.« Der Feinschmecker als Aktivist? Der Koch als Kulturrevolutionär? Ein appetitlicher Gedanke.
Jürgen Dollase, »Himmel und Erde. In der Küche eines Restaurantkritikers«, AT Verlag, Aarau, 2014, geb., 304 S., 39,90 Euro.