TEXT: ANDREAS WILINK
Was ist schon eine einfache Geschichte? Bildet nicht jede Geschichte ein kompliziertes Lebensmuster, wenn man dessen Lineaturen, Webfäden und Nahtstellen genau genug verfolgt? Eilis Lacey stammt aus Enniscorthy – wie ihr Autor Colm Tóibín, der wenige Jahrzehnte später als die Hauptfigur seines Romans »Brooklyn« im Süden Irlands geboren wurde. Weil sich Eilis in der kleinstädtischen Enge kaum eigenständige Zukunft und berufliches Fortkommen bieten, beschließen ihre verwitwete Mutter und ältere Schwester Rose, sie mit Hilfe eines Priesters, der aus Amerika zu Besuch ist, und unter dessen Obhut nach New York auswandern zu lassen. Welch ein Verzicht das für die beiden zurückbleibenden Frauen bedeutet, deren Söhne bzw. Brüder schon in England zum Broterwerb leben, soll Eilis nicht merken. Die wiederum zwingt sich, Freude zu zeigen, obwohl ihr ganz anders ums Herz ist.
Die Überfahrt dritter Klasse in einer Doppelkabine neben einer mit allen Wassern gewaschenen Engländerin, die Eilis das Elend der Reise erleichtert, gleicht einer Initiation in die Anforderungen des Erwachsenseins. Eine Hadesfahrt, auch wenn an deren Ziel das Land of the Free wartet, und auch wenn Tóibín metaphorischen Ballast und symbolische Überhöhungen in seiner klaren, präzisen, maßvollen und geduldigen Sprache meidet. Die Erzählung läuft dahin wie ruhiges Gewässer.
Im irisch geprägten Brooklyn, dessen sittenstrenge katholische Bevölkerung sich separiert von den Italienern, Polen, Russen oder gar den Farbigen, kann sich Eilis nur schwer einleben. Die Hitze des Sommers, die schneidende Kälte im Winter, der Pensionsalltag bei ihrer Wirtin und den übrigen weiblichen Logisgästen und das Einerlei der Arbeit als Verkäuferin im Kaufhaus Bartocci auf der Fulton Street lassen in ihr Heimweh ausbrechen wie eine akute Infektionskrankheit.
Erst die Abendschule, um sich zur Buchhalterin ausbilden zu lassen, kirchliche Hilfsdienste und Tanzvergnügen im Gemeindehaus und vor allem der italienischstämmige Tony mitsamt der Aussicht auf ein gemeinsames Eheleben wandeln ihr Gefühl der Fremde, bevor ein Todesfall Eilis nach Irland zurückholt. So wie von Brooklyn aus betrachtet für sie allmählich die Heimat an Kontur verlor, entfernt sich nun umgekehrt vom irischem Geburtsort aus Amerika wieder und verschwimmt zum Niemandsland.
Eilis durchleidet die Krisen des Doppellebens, der Zerrissenheit, des moralischen Ungenügens vor sich selbst und des Verrats an dem einen drüben oder an einem anderen hier. Genötigt zum Maskenspiel, wird es ihr zur zweiten Natur, sich zu verschließen. Ihr Inneres fühlt sich an, als sei Eilis Lacey auf der Quarantäne-Station Ellis Island kaserniert, die jeder Neuankömmling in New York zu passieren hat.
Dieser Zwiespalt wohnt vielen Figuren Tóibíns inne, exemplarisch dem zwischen Amerika und England pendelnden Schriftsteller Henry James, dem er das Roman-»Porträt des Meisters in mittleren Jahren« widmete und dessen gebrochene Heldinnen selbst oft ein ›sowohl als auch‹ prägt, das zum ›weder noch‹ werden kann.
»Brooklyn« durchströmt noch etwas vom Atem des 19. Jahrhunderts. Zwar läuft in den Kinos »Singin’ in the Rain«, und es sammeln sich modische Attribute und soziale Aspekte zu einem Epochenbild Mitte des 20. Jahrhunderts. Doch ohne diese konkreten Hinweise könnte man glauben, die Zeit sei viel weiter zurück gedreht. Colm Tóibín gelingt in vier großen Kapiteln ein – wie eben auch aus den literarischen Bewusstseins-Messungen des Henry James vertraut – von Empathie und psychologischer Kenntnis getragenes Frauenbildnis: impressionistisch, scharfsinnig und im Dienst der Erkenntnis und Selbsterkenntnis. Gleich James könnte auch Tóibín mit Blick auf seine Heldin Ähnliches sagen, wie einst Flaubert bezogen auf seinen berühmtesten Roman: »Emma Bovary c’est moi«.
Colm Tóibín, »Brooklyn« Roman. Aus dem Englischen von Giovanni Bandini und Ditte Bandini. Hanser Verlag, München 2010, 304 Seiten, 21,90 Euro
Colm Toíbín liest am 3. November in der Kölner Buchhandlung Bittner.