TEXT: ANDREAS WILINK
Manchmal genügt es im Kino, einem Schauspieler zuzusehen, vor allem dann, wenn er ein ganzes Schauspieler-Leben für seine Rolle mitbringt. Die Regungen eines Gesichts machen das Drehbuch wett, ein Blick ersetzt die Dialoge. Das war vor einiger Zeit so, als Jeanne Moreau »Eine Dame in Paris« darstellte; es ist jetzt so mit Michael Caine als Herr in Paris. Der Amerikaner, ehemals Philosophie-Professor in Princeton, kam mit seiner Frau nach Frankreich und wurde hier zum Witwer. Auf dem Friedhof steht sein Name bereits auf dem Doppelgrabstein »Morgan«, nur der Vorname »Matthew« fehlt noch mit dem Datums-Eintrag. Eigentlich ist er tot, seit seine Frau an Krebs starb. Es gibt eine Solidarität mit den Lebenden, aber die zu den Toten kann manchmal stärker sein. Das Finale will er beschleunigen, doch führt die Einnahme von Tabletten nicht zum beabsichtigten Erfolg. Als Sohn Miles und Tochter Karen, die alles mit links zu managen glaubt und sich nicht an Details aufhält, aus den Staaten anreisen, finden sie eine junge schöne blonde Frau am Krankenbett vor: Pauline Laubie (Clémence Poésy), eine Tanzlehrerin, Zufallsbekanntschaft des Vaters und seine keusche »Last Love«: »der Riss in seiner Welt«, wie er sagt. Die Begegnung mit ihr hat ihm erst vollkommen gezeigt, dass er aus der Welt gefallen ist.
Auch in Michael Hanekes »Amour« gibt es eine gediegene Pariser Wohnung wie die von Morgan, und Jean-Louis Trintignant war ebenfalls Lehrer und legt nach dem Tod seiner Frau Hand an sich – ihm wird es gelingen. Alles ist härter, unerbittlicher, unausweichlich und wahrhaftiger als in Sandra Nettelbecks konventionell gemütvoller Verfilmung eines Romans von Francoise Dorner. Aber Matt Morgan bleibt als Figur in Erinnerung. Nicht weil er viele Bücher gelesen hat, melancholische Spaziergänge im herbstlichen St. Germain unternimmt, noch ein schönes Haus am Meer in St. Malo besitzt und es sich leistet, in den besten Restaurants zu essen. Auch nicht, weil die Auseinandersetzungen mit seinem unglücklichen Sohn Miles (Justin Kirk), den seine Frau verließ und der Pauline zunächst nur als Konkurrenz und Ärgernis empfindet, immer auf den gleichen Konflikt hinauslaufen: Das Unausgesprochene steht im Raum, bis es zur Sprache kommt und ewig alte Konflikte auflöst. Wie Michael Caine aber das Brüchige einer Existenz und ein Wissen verkörpert höher als Vernunft, das ist schon ein Geschenk.
»Mr. Morgan’s Last Love«; Regie: Sandra Nettelbeck; Darsteller: Michael Caine, Clémence Poésy, Justin Kirk, Jane Alexander, Gillian Anderson; Deutschland/Belgien 2013, 116 Min.; Start: 22. August 2013.