Keyenberg wird abgebaggert. Bis es so weit ist, sammelt Regisseurin Eva-Maria Baumeister Töne. Was bleibt, wenn ein Dorf verschwindet?
Keyenberg bei Erkelenz. Ein Dorf aus dem 9. Jahrhundert, 741 Einwohner. Auf den Weiden grasen Kühe, neben der Dorfkirche ist ein Maibaum aufgestellt. Die Jalousien vieler Häuser sind heruntergelassen, Türen verrammelt. Rohre ragen aus Beeten und Feldern, Gehwege münden in sandige Halden. Ein rostiger Baucontainer steht im Dorfzentrum, am Horizont stehen mehrere Schaufelradbagger des Energiekonzerns RWE AG. Seit gut einem Jahr ist die Kölner Theaterregisseurin Eva-Maria Baumeister für ihr Hörstück »Verschwindende Orte« in Keyenberg, Kuckum und Immerath unterwegs, um die letzten Tage dieser »Grubenranddörfer« akustisch aufzunehmen. Denn geht es nach RWEs Plänen für den Braunkohletagebau Garzweiler 2, werden diese Dörfer schon bald von der Landkarte verschwunden sein.
Eva-Maria Baumeister fängt Umgebungsgeräusche, sogenannte »Field Recordings«, ein – das Plätschern des kleinen Flusses Niers oder das dröhnende Wummern der Grubenbagger. Sie mischt O-Töne der Dorfbewohner und höhenbetonte Geräusche wie das Weiße Rauschen hinzu, mit denen sie »das Abwesende« hörbar machen möchte. So entsteht eine vielschichtige Toncollage, in der die brachiale Realität des Tagebaus durch die Fragilität und Flüchtigkeit des Akustischen erlebbar wird. Baumeisters Hörstück ist nicht narrativ, hat aber umso mehr zu erzählen. Zum Beispiel von der großen seelischen Belastung, mit der die Keyenberger schon viele Jahre leben müssen. Sprechen sie über den Tagebau, verwenden sie Wörter wie »Seuche« oder »Krankheit«. Die Bagger werden zu »Monstern«, die bei Ostwind besonders laut zu hören sind; die Grube zum »schwarzen Loch«, das bedrohlich vor den Toren der Ortschaft zu lauern scheint.
»Verschwindende Orte« erzählt aber auch von Ausgrenzung. Von Nachbarn, die sich um neue Grundstücke streiten oder gar nicht mehr miteinander reden. Von Menschen, die den Kampf gegen die Umsiedlung aufgegeben haben – und von jenen, die genau das nicht verstehen können, weil sie weiter Widerstand leisten möchten. Viele Dorfbewohner schweigen – teils aus Resignation, teils aus Angst. Und dann gibt es noch diejenigen, die sagen, dass »es endlich weg« soll. Das Dorf und alles, was dazu gehört. In einem Ort wie Keyenberg sind das Häuser, Straßen und Kirche, Schützen- und Karnevalsverein, der Chor, der Kegelclub, die Turngruppe, die wöchentliche Kaffeerunde. »Diese Strukturen sind einerseits recht hermetisch und konservativ«, sagt Eva-Maria Baumeister, die selbst aus einem Dorf im Sauerland stammt. »Aber sie stehen andererseits auch für Rituale, Gemeinschaft und Identität. Umso erschütternder ist es, wenn ein Konzern dir ganz legal all das wegnimmt.« Mit dieser Setzung wirft sie auch globale Fragen nach den Strukturen von Macht auf. Schließlich müssen weltweit Menschen ihr Zuhause verlassen, wegen Krieg, Zerstörung und »weil es überall Mächte gibt, die entscheiden, wer bleiben darf und wer gehen muss«.
Im Gegensatz zu den Protesten rund um den nahen Hambacher Forst gerät das Verschwinden der Dörfer vor den Toren Düsseldorfs und Kölns seltener in den medialen Fokus. Eine Ausnahme gab es Anfang 2018, als der nahegelegene Immerather Dom wegen des Tagebaus trotz öffentlicher Kritik abgerissen wurde. Auch Eva-Maria Baumeister wurde so auf die Region aufmerksam. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich sowohl in ihren Theaterstücken als auch in ihren akustisch-musikalischen Werken schon mehrfach mit Verlust, Trauer und Erinnerung auseinandergesetzt. 2017 etwa beschäftigte sich die Folkwang-Absolventin, die unter anderem bereits für das Schauspielhaus Bochum oder das Schauspiel Graz gearbeitet hat, in »Trost den Untröstlichen« an der Schwankhalle Bremen mit Gesten des Abschieds und des Trostes. Ausgangspunkt war auch dort ein konkreter Kontext – ein Haus, das wegen Sanierungsmaßnahmen abgerissen werden sollte. »Kunst darf sich von diesen realpolitischen Themen natürlich nicht vereinnahmen lassen«, sagt Baumeister. Ihre Kunst soll nicht allein das Zeitgeschehen abbilden, sondern verführen, »zu einem polarisierenden, öffnenden Denken«.
Ende des Jahres wird sie ihre Arbeit an »Verschwindende Orte« abschließen. Unterstützt wird sie durch ein Arbeitsstipendium der Film- und Medienstiftung NRW. Darauf aufbauend produziert sie aktuell das Theaterstück mit dem Arbeitstitel »Verschwindende Orte oder was uns retten kann« in Zusammenarbeit mit der Freien Werkstatt Theater Köln und der Alten Feuerwache. Es wird im Oktober 2019 in der Alten Feuerwache zu sehen sein.
Wenn RWE und die Politik nicht einlenken, werden Keyenberg und die anderen Dörfer 2030 vollständig verschwunden sein. Dann wird das Grubenloch geflutet; ein gigantischer Binnensee entsteht. »Ein älterer Mann hat mir erzählt, dass er seinem Enkel die GPS-Daten seines Hauses geben möchte«, sagt Eva-Maria Baumeister. »Er wünscht sich, dass sein Enkel eines Tages mit dem Boot hinausfährt und dort, am Grunde des Sees, das Zuhause seines Großvaters wiederfindet.« Mit »Verschwindene Orte« gibt sie dieser Erinnerung einen Raum. Etwas, das bleibt.