Philosophie hat er studiert. Juristerei, Medizin, und ach! – sogar Maschinenbau und Haushaltstechnik, Aerodynamik, nasskalten Mauerbau und Fleischhauerei. Und trotzdem fühlt sich Heinrich »so klug als wie zuvor« – seine Neugier auf das, was die Welt zusammenhält, bleibt ungestillt. Kein Wunder, dass er sich in Gefahr begibt, um seinen Wissensdrang zu stillen. Ein Wunder jedoch, dass er dabei mit seinem Gretchen ein Happy End feiern und Mephisto zur Hölle schicken darf – so zu erleben bei der RuhrTriennale- Produktion »Heinrich und Margarethe«, die – anders als der Titel vermuten lässt – nicht nur das Gretchendrama im »Faust« für Kleine aufarbeitet. Am 9. September feiert der Kinder- Faust im Maschinenhaus der ehemaligen Zeche Carl in Essen seine Uraufführung. Zwei Seelen streiten sich in der Brust beim Gedanken an ein solches Vorhaben: Es gibt so viele wunderbare Stücke für Kinder – warum muss es gleich Goethes »Faust« sein? Andererseits ist es eine verlockende Idee, Kinder angstfrei an das Stück heranzuführen, bevor sie im Deutsch-Unterricht die Lust am klassischen Drama vielleicht für immer verlieren. Aber ist das Stück nicht zu grausam für Kinder? Schlimmer als Harry Potter ist es zumindest nicht. Außerdem kommt es auf die Inszenierung an. Dritter Einwand: Wird ein so komplexer Stoff in einer Kinder-Version nicht zwangsläufig banalisiert? Das wiederum kommt auf die Autoren an – in diesem Fall Martin Kreidt und Ute Rauwald, letztere führt außerdem Regie.
Kreidt und Rauwald haben nicht nur selbst zwei Kinder, sondern auch das volle Vertrauen von RuhrTriennale-Chef Jürgen Flimm, der das Künstler-Ehepaar noch aus seiner Zeit als Professor am Regie-Studiengang der Universität Hamburg kennt. Sie mache wunderbare Aufführungen, schwärmt Flimm von seiner ehemaligen Studentin Rauwald, die bereits den Regiewettbewerb der Wiener Festwochen gewann und 2004 mit dem Bayerischen Theaterpreis ausgezeichnet wurde. Die Gerühmte selbst ist sich durchaus bewusst, welche Vorbehalte es gegenüber einem Kinder- »Faust« gibt: vor allem zu schwierig sei er. Rauwald selbst ist da ganz anderer Meinung, als Mutter ebenso wie als Regisseurin. Fausts Neugier sei eine kindliche, findet sie: »Gerade Kinder können Heinrichs Wunsch, Grenzen zu überschreiten, sehr gut nachvollziehen. Ich will die Geschichte so erzählen, dass sie in der Seele der Kinder ankommt.« Und so gibt der 1979 geborene Patrick Güldenberg den RuhrTriennale-Faust nicht als grüblerischen Gelehrten, sondern eher kindlich-trotzig in seinem Wunsch, endlich mal etwas zu erleben, was ihn interessiert, was ihn »wirklich nicht langweilt«. Was das Autorenteam am Faust erkennbar interessiert, ist Heinrichs Weg in die und aus den Verführungen, die ihn letztlich erwachsen machen und sein Selbstbewusstsein zunehmend steigern. Um einen weiteren Einwand gleich vorwegzunehmen: Nein, Goethe wird dabei weder vergewaltigt noch verniedlicht, allerdings stark gekürzt und teils phantasievoll ergänzt – siehe oben. Dennoch blieb erstaunlich viel O-Ton erhalten. Dankenswerterweise hat das Autorenteam dabei vermieden, ein Best-Of der berühmtesten Zitate zu zimmern. Ute Rauwald setzt auf die Bilder ihrer Inszenierung, die den Kindern helfen sollen, die ungewohnte Sprache zu verstehen. Sex und Kindsmord werden in »akzeptierbare Bilder« gepackt, verspricht sie, es werde alles erzählt und nichts weggelassen – auch nicht das schlimme Ende, obwohl »Heinrich und Margarethe « selbst gut ausgehe.
Wie das funktioniert, ist in der Kinderliteratur spätestens seit Michael Endes »Die unendliche Geschichte« und zuletzt Cornelia Funkes »Tintenherz« bekannt: Neben der eigentlichen, phantastischen Geschichte gibt es eine Rahmenhandlung in der realen Welt, die für die Kinder gleichermaßen Identifikation und Rettungsanker bildet. Figuren aus Büchern werden lebendig und zeigen mitunter recht düsteres Geschehen – dennoch haben die kleinen Zuschauer stets die Gewissheit, dass das Gezeigte »nur eine Geschichte« ist. Versinnbildlicht wird dies auf Katrin Nottrodts Bühne durch ein Buch so hoch wie der Raum, das während der Vorstellung aufgeblättert wird und die dramatischen Figuren ausspuckt und wieder einsaugt. Die Buchseiten sind leer – gefüllt werden sie von im Kinderstil gezeichneten Video-Projektionen der Hamburger Künstlerin Dagmar Rauwald (die Schwester der Regisseurin). So ist der Pudel, in dessen Gestalt Mephisto sich dem Faust nähert, zunächst eine animierte Zeichnung auf der Buchseite. Auf Mephistos Befehl läuft er, bäumt sich auf und bleibt stehen – gesteuert vom Technikpult. Am Ende der Buchseite angelangt, verwandelt sich dann Mephisto selbst in den Hund und macht sich auf ins Studierzimmer, wo Faust wie ein Bücherwurm umgeben von dicken Schwarten in einem Bücherregal liegt.
Statt den Bühnenraum üppig auszustatten, stattet das Triennale-Team lieber die Kinder mit Stoff für eigene Phantasien aus. Immerhin geht die Reise von Heinrich und Mephisto, die sich alsbald per Blutspakt verbünden, noch in Auerbachs Keller und auf den Blocksberg, nach Italien und in Frau Marthes Garten – unmöglich, das alles zu zeigen. Und so steht Franziska Melzer als kellnerndes und wunderschön sächselndes Gretchen in Auerbachs Keller vor einer Leinwand und erzählt den Zuschauern von ihrem anstrengenden Job in diesem rustikalen Lokal, während mehrere Maß Bier samt Theke nach und nach angeflogen kommen und als bunte Zeichnungen im Hintergrund schließlich still stehen. Das ehemalige Maschinenhaus mit seinen rohen Backsteinmauern und hohen Bogenfenstern wird von der RuhrTriennale zum ersten Mal bespielt und ist in dieser Saison gleichzeitig Sitz der Theaterakademie für Kinder. Um es für die Produktion herzurichten, wurde ein Haufen Technik hereingeschafft – nun bietet es ebenso gute Voraussetzungen wie ein Theater. Einen »Raum von überirdischer Schönheit« vermag Jürgen Flimm darin zu sehen – zieht man den für einen Intendanten wohl nötigen Enthusiasmus ab, bleibt auf jeden Fall ein hübscher historischer Raum von idealer Größe, gelegen im denkmalgeschützten Ensemble ehemaliger Zechengebäude und direkt gegenüber dem bekannten soziokulturellen Zentrum Zeche Carl. Hier sollen die Kinder nicht nur die Verführungen des Mephisto erleben, sondern – so Flimm – als Jung-Studenten der Theaterakademie eine »Schule der Erfahrung, der ästhetischen Bildung, des Erlebnisses« genießen. Namhafte Theaterkünstler sind eingeladen, um die Kinder in die Geheimnisse des Geschehens vor und hinter den Kulissen einzuweihen. Choreografin Sasha Waltz war bereits da, es kommen noch Sopranistin Christine Schäfer, Dirigent Gerd Albrecht oder Requisiteurin Angelika König vom Berliner Ensemble. Niemand habe bislang die Ehre, Gast-Professor der Theaterakademie für Kinder zu werden, abgelehnt, sagt Flimm, der die Premiere für die Akademie im vergangenen Jahr »zum Weinen schön« fand – auch wenn er so wie alle Erwachsenen für die Zeit des Unterrichts draußen bleiben musste.
»Heinrich und Margarethe« jedoch steht auch Erwachsenen offen, die ihren Spaß daran haben werden, O-Ton und Nach-Dichtung voneinander zu unterscheiden, und die den »Faust« mit dieser Produktion garantiert noch einmal neu kennen und lieben lernen werden. //
Weitere Termine 11., 13., 14., 18., 19., 21., 22. Sept. 10 Uhr; 16., 23. Sept. 16 Uhr; www.ruhrtriennale.de