TEXT: ANDREAS WILINK
Der Herr Obersturmführer und Lagerkommandant von Theresienstadt, Karl Rahm, hat Pläne. Ein Gedanke, wo nicht gar ein Wort von ihm, ist Befehl. Er will einen Film – einen »Als-ob-Film«, wie sein erzwungener Regisseur es nennt. Die Welt soll sehen, wie gut es die Juden haben im Dritten Reich. Kurt Gerron bekommt den Auftrag, das Propagandawerk im falschen Konjunktiv zu drehen.
Während die Gewissensfrage gerade wieder öffentlich Konjunktur hat, können wir bei Charles Lewinsky erfahren, was es wirklich bedeutet, eine Entscheidung auf Leben und Tod, über Schuld oder Unschuld zu treffen. Ein Ja heißt für Gerron, sich und seine Frau Olga womöglich zu retten und Zeit zu gewinnen, denn die Rote Armee steht schon an der Weichsel und die Alliierten überfliegen tschechisches Gebiet. Ein Ja bedeutet aber auch Verrat, künstlerisch und moralisch, sich in den Dienst der Lüge zu stellen und Mittäter zu sein. Aber vielleicht gibt es Schlimmeres als Verachtung für sich selbst? Die Weigerung hingegen zieht den Transport in die Vernichtung unweigerlich nach sich.
Diesen Kurt Gerron (gebürtiger Gerson = Ger schom, hebräisch für: »ein Fremder dort«) stellt man sich meist vor mit dicker Zigarre. Typische Rollenbesetzung: hemdsärmeliger Hallodri, verschlagener Ganove, jovial wie ein Generaldirektor, wahlweise solide oder in Halbseide. Berühmt wurde er durch Brechts »Dreigroschenoper«, als er am Schiffbauerdamm den Haifisch- und Kanonenboot-Song sang, und durch Josef von Sternbergs »Der blaue Engel« als Chef des Tingeltangels neben Marlene Dietrich und Emil Jannings. Er gehörte zur »A-Prominenz«, wie der Jargon der Nazis lautet, die ihre »Elite-Juden« in Theresienstadt konzentrierten.
Lewinsky, der 2006 mit »Melnitz« eine jüdisch-schweizerische Buddenbrooks-Chronik schrieb, literarisiert hier in »Gerron« eine historische Figur, ausgeformt zur Ich-Erzählung, ungeschönten Selbstausforschung und Selbstversicherung des Noch-am-Leben-Seins. »Gerron« ist ein doku-fiktionaler Zeitroman, handelnd vom Zivilisationsbruch. Vor allem aber ein Künstlerroman über einen ins Positive gewendeten »Mephisto«: einen Unterhalter, fahrlässig unpolitischen Phantasten und »Glumskopp«, der (zu) lange an die Inszenierbarkeit der Welt glaubt und sich im Mittelpunkt wähnt.
Gerrons Kurzbiografie: 1897 geboren, behütete Kindheit in Berlin (der Vater besitzt eine Konfektionsfabrik), Notabitur, um in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs geschickt zu werden, wo er den ersten Tod und den ersten Sex erlebt und nach einer Verwundung impotent zurückkehrt; Medizinstudium; dann – für ein Anfangshonorar von fünf Mark – Auftritte als Kabarettist und Sänger. Der Schauspieler und Regisseur wird Ufa-Star und eine Berühmtheit der Weimarer Republik. 1933 folgen Berufsverbot und Entrechtung, Emigration nach Frankreich und Holland, Verhaftung, das »Stadtverschönerungsprojekt« Theresienstadt – und der Tod in Auschwitz am 28. Oktober 1944. Dass er ein Angebot Hollywoods, vermittelt durch den Kollegen Peter Lorre, ausschlug bzw. so spät annahm, dass inzwischen der Fluchtort Rotterdam von den Deutschen bombardiert war, weist er seinem verstiegenen Übermut zu.
Lewinsky, der methodisch mit Theater-Metaphern, Liedzeilen und Zelluloid-Zitaten sowie Anekdotischem, aber ohne Schmuh spielt, gibt Gerron eine sanft bis scharf sarkastische, radikal unsentimentale und unheroische Sprache, bewehrt mit feinen Widerhaken, getauft mit Billy-Wilder-Humor, geätzt wie beste Heinrich-Mann-Prosa. Eingeschoben sind knappe, brillante Porträts von Brecht, Jannings, Lorre, Rühmann und einigen No-Name-Freunden und -Feinden. Sowie eine unvergessliche Episode über einen fünf Monate alten Jungen im Lager Westerbork, den Gerron rettet. Manchmal öffnet der Autor den Vorhang über einer Wunschszene, um zu zeigen, wie es anders hätte sein können: glückhafter, großartiger, wagemutiger – »Aber so war es nicht.« Ernüchterung dient als Mittel der Emotionalisierung.
»Gerron« schildert eine Irrsinns-Welt aus den Fugen, in Form gehalten durch Konvention, Verwaltungswahn, Ordnungsprinzipien, Listenlogik, Paragraphen und Statistik. Einer der vielen bitter-wahren Sketch-Sprüche Kurt Gerrons geht so: »Was ist eine gespaltene Persönlichkeit? Ein deutscher Jude.«
Charles Lewinsky, »Gerron«, Nagel & Kimche, Zürich 2011, 544 S., 24,90 Euro.
Lesungen am 7.11. im Theater im Bauturm, Köln, am 8.11. in der Bücherstube in Sankt Augustin und am 13.11. im Filmstudio Glückauf in Essen.