TEXT: MARTIN KUHNA
Der »Friedhof am Hallo« in Essen-Schonnebeck hat seinen putzigen Namen von einem natürlichen Hügel. An dessen östlichem Hang wurde 1918 der Friedhof eingerichtet und später mehrfach hangaufwärts erweitert. Da lebten und starben noch viel mehr Menschen in Essen als heute, und der Trend ging zum Einzelgrab. Jetzt sind weite Flächen ungenutzt. Nicht nur des »demografischen Wandels« wegen. Gräber sind teuer, die Pflege ist aufwändig, und die einst verpönte Einäscherung eröffnet Wege zu vielen Bestattungsarten, die teils wenig Geld und allesamt wenig Platz erfordern, meist nicht einmal ein eigenes Grab.
Auf dem ältesten Teil des Friedhofs ist das traditionelle Grab von Karl und Anna Albrecht, den Eltern der »ALDI«-Brüder. Nur zwei Meter hinter dem Grabstein und dem blickdichten Rhododendronbusch beginnt eine andere Welt. Dort liegt ein türkisches Mädchen in Schonnebecker Erde; Nasibe ist 1976 mit neun Monaten gestorben und wurde auf dem kurz zuvor eröffneten islamischen Gräberfeld begraben.
Auch in anderen Städten gibt es solche Felder. Doch obwohl Feuerbestattung für Muslime weiterhin tabu ist, sind jene erstaunlich klein geblieben. Im siegerländischen Betzdorf ist gar von 23 möglichen Gräbern in zehn Jahren nicht eines belegt worden. Was einst alle von den »Gastarbeitern« erwartet haben: dass sie irgendwann wieder »nach Hause gehen«, trifft bei muslimischen Immigranten am Ende noch immer zu. Die weitaus meisten werden zur Beerdigung in das Land ihrer Geburt überführt. Strenge Friedhofs-Regeln nähren den Verdacht, dass es in Deutschland aus islamischer Sicht nicht mit rechten Dingen zugehen würde. Obwohl beide Seiten sich in der Praxis längst aufeinander zu bewegen.
EINE FAMILIENSACHE
Zwei Tage nach dem islamischen Opferfest trägt Wais Nassery seinen Bruder zu Grabe. Nach 28 Jahren im deutschen Exil, sagt Nassery, sei ein Begräbnis »daheim« in Afghanistan nicht mehr in Frage gekommen. So geschieht es, dass an diesem 17. Oktober die Begräbnisfeier für Abdul Rahman Nassery, man darf das wohl so sagen, den Friedhof am Hallo belebt wie lange nicht mehr. Die Nasserys sind eine große Familie; es sind über 400 Menschen gekommen.
Am Haupteingang wird den Gästen Mineralwasser als Erfrischung angeboten. Neben einem Bild des Verstorbenen stehen die nächsten Angehörigen und stellen sich zum ersten Mal dem Defilee der Kondolierenden. Manche tragen traditionelle Gewänder der afghanischen Paschtunen, doch überwiegt europäische Kleidung – dunkel, obwohl eigentlich Schwarz im Islam keine Trauerfarbe ist. Schließlich wird der Sarg aus dem Leichenwagen gehoben und fortgetragen – nicht von professionellen Sargträgern, sondern von Mitgliedern der Trauergemeinde. Es entsteht ein Gedränge; der Sarg schwankt, da viel mehr Männer als notwendig zugreifen wollen und einander nach wenigen Metern Strecke ablösen. Das ist so üblich, weil es Ehre bedeutet, beim Tragen zu helfen.
Mitglieder der Trauergemeinde sind auch lebhaft beteiligt, als der Sarg in die Erde hinabgelassen und ausgerichtet, das Grab zugeschaufelt wird, bis sich darüber ein Hügel erhebt. Zum Abschluss wird die typische, fünfeckige Holztafel mit dem Namen des Verstorbenen in den Lehm gesteckt und das Grab mit Blumen bedeckt. Unterdessen hat der Imam gesprochen, hat ein geschulter »Qari« kunstvoll aus dem Koran rezitiert, Bruder und Freunde haben über den Toten gesprochen. Während der ganzen Zeit hat eine große Gruppe Frauen in respektvollem Abstand gewartet. Sie beten erst am Grab, als die männliche Trauergemeinde zum Ausgang des Friedhofs zurückgekehrt ist, vorbei an einem Metallkasten mit glimmenden Gewürzen; dem Rauch wird eine reinigende Funktion zugesprochen.
Noch einmal defilieren am Ausgangstor die Männer an den Angehörigen vorbei: Händeschütteln, Umarmungen, Wangenküsse, Hand auf dem Herzen, gemurmelte Worte. Helfer halten kleine Wegzehrungen bereit: ein Fladenbrot, Wasser und Tee. Trotz alledem betont Wais Nassery, wie wenig »anders« eine islamische Beerdigung im Grunde sei: Gebete am Grab, Worte aus der Heiligen Schrift, Reflexionen über Vergänglichkeit und Bleibendes, Erinnerungen an den Gestorbenen – »wie bei anderen Religionen auch.« Nassery hatte auch keine Konflikte mit der städtischen Friedhofssatzung.
DIE SACHE MIT DEM SARGZWANG
Hisham El-Founti ist Geschäftsführer jenes Bestattungsinstituts im Düsseldorfer Marrokkaner-Viertel, das die Beerdigung in Essen betreut hat. Er sieht die Situation ein wenig anders: »Wir wollen korrekt nach beiden Seiten sein: den Behörden und den islamischen Vorgaben gegenüber.« Dabei gebe es in Deutschland noch immer bürokratische Hürden. Im Gespräch wird allerdings wieder deutlich, dass auf beiden Seiten viel »Eigentliches« im Spiel ist, das dann uneigentlich doch keine so große Rolle mehr spielt oder spielen müsste, weil Koran wie deutsche Gesetze Raum für Exegese und Interpretation bieten.
Binnen 24 Stunden nach dem Tod, so liest man oft, müsse ein Muslim eigentlich unter die Erde. Frühestens nach 48 Stunden, sagt das deutsche Gesetz. Abdul Rahman Nassery allerdings wurde erst fünf Tage nach seinem Tod beerdigt: Gestorben war er am Freitagabend, so machte das deutsche Behörden-Wochenende gleich einen Strich durch die islamische Rechnung. Erst am Montag konnte die Familie aktiv werden. Am Dienstag aber war das Opferfest – kein Tag für eine Beerdigung. Man wählte schließlich den Donnerstag, so dass möglichst viele Besucher anreisen konnten. Das war Wais Nassery wichtiger als streng-islamische Zeitvorgaben. Die empfindet er als nicht theologisch begründet, eher als arabische Tradition, die in weniger heißen Regionen geringere Bedeutung hat.
Eine ernste Hürde war früher, dass einerseits islamisch eigentlich ohne Sarg beerdigt wird und andererseits in Deutschland eigentlich Sargzwang herrscht. Doch den haben die meisten Städte längst auf den Transport reduziert: Der Leichnam, nach ritueller Waschung fest in Leintücher gewickelt, darf am Grab aus dem Sarg genommen werden und nach islamischer Tradition beerdigt werden: auf der rechten Seite liegend und mit Erde abgestützt, mit dem Gesicht zum Wallfahrtsort Kaaba in Mekka. Ohne Sarg, aber vor herabfallender Erde durch Holzbretter geschützt. Dennoch lassen viele Muslime ihre Angehörigen im Sarg beerdigen – etwa die Hälfte, schätzt Hisham El-Founti. Annäherung an hiesige Gepflogenheiten.
EWIGES NUTZUNGSRECHT?
Eigentlich, sagt Bestatter El-Founti wieder, sollen Muslim-Gräber schmucklos sein und ohne Stein. Wer aber die Gräberfelder in Essen oder auf dem Düsseldorfer Südfriedhof besucht, gewinnt einen ganz anderen Eindruck: Selbst die kleinen Gräber sind eingefasst, bepflanzt oder mit weißen Kieseln geschmückt. Auf Kindergräbern liegt oft Spielzeug. Holzschildchen zeigen Namen und Lebensdaten der Toten, und meist steht darauf »Ruhuna Fatiha« – Aufforderung an Besucher, für den Toten wenigstens »Fatiha« zu beten, die erste Sure des Korans: »Bismi-llahi-r-rahmani-r-rahim; al-hamdu li-llahi rabbi-l-’alamin; ar-rahmani-r-rahim … – Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen, alles Lob gebührt Gott, dem Herrn der Welten, dem Allerbarmer, dem Barmherzigen …«. Die größeren Gräber haben fast alle einen Stein, mit den Daten des Toten, mit seinem Bild, mit der »Fatiha«, arabisch oder in Transkription, mit persönlichen Zeilen der Angehörigen in deutscher Sprache. Das ist, auch wenn die Steine zuweilen Minarettformen zitieren, weitgehende Assimilation – freiwillig.
Anders ist es mit den zeitlich begrenzten Nutzungsrechten auf deutschen Friedhöfen. Islamische Gräber sollen eigentlich auf ewig unverletzbar sein. Regelmäßiger Besuch, Gebete, Pflege des Grabes ist den Angehörigen Verpflichtung. So trifft man schon einmal Männer am Grab, die Korangesang von einem kleinen Rekorder spielen. Gießkannen und kleine Harken liegen sichtbar neben den Gräbern – wie Zeichen dafür, dass man sich kümmert. Auch wenn »ewig« nicht wörtlich genommen werden muss: Die Vorstellung, dass die Gebeine des Toten nach ein paar Jahren weggeräumt werden, ist für Muslime schrecklich. Zwar kann die Nutzung bei »Wahlgräbern« später verlängert werden. Doch die, sagt Bestatter El-Founti, sind für viele Immigranten viel zu teuer. Bei den einfachen Gräbern dagegen läuft die »Ruhezeit« nach 25 Jahren unwiderruflich ab, bei Kindergräbern sogar noch eher.
AUSRICHTUNG? MEKKA
Dass manche Gräber schon viel früher ganz verwildert sind, mag wie ein Widerspruch aussehen – oder auch nicht: Muslime überlassen die Grabpflege nur selten einem bezahlten Friedhofsgärtner. So müssen sie ihre Gräber mit Hingabe selbst pflegen – und sie dann nach dem Stichtag unvermittelt der Einebnung preisgeben. Womöglich emotional schwieriger, als den Ort beizeiten sich selbst zu überlassen. Jedenfalls klebt auf vielen muslimischen Gräbern am »Hallo«, gepflegten wie ungepflegten, ein gelber Aufkleber: »Das Nutzungsrecht an dieser Grabstätte ist abgelaufen.« Dass nebenan der gleiche Zettel auf dem Grab der Albrechts klebt, könnte bedeuten, dass nicht nur arme Muslime mit den Nutzungszeiten hadern, auch deutsche Milliardäre.
Ein neues Friedhofsrecht erlaubt es religiösen Gemeinden in NRW, von 2014 an eigene Friedhöfe einzurichten. In Wuppertal, wo das kleine islamische Gräberfeld auf dem kommunalen Friedhof an seine Grenzen stößt, bereitet man sich schon auf diesen Schritt vor. Die Aussicht, islamische Gepflogenheiten nicht stets qua Ausnahmeregelung erstreiten zu müssen, mag weitere Vereine in anderen Städten auf den Plan rufen. Eigentlich notwendig scheint das aber angesichts so viel »uneigentlicher« Annäherungen von beiden Seiten nicht.
In Zeiten, da Friedhöfen alles andere droht als Überfüllung, werden die kurz befristeten Nutzungszeiten zum Anachronismus – freie Flächen gibt es ohnehin mehr als genug. Und weil verwitternde Gräber immer noch besser zu einem Friedhof passen als leere Grasflächen, wird man womöglich gar irgendwann über deutschen Ordnungssinn nachdenken müssen. Die Einrichtung islamischer Gräberfelder hat ja bewiesen, dass es geht: Damit die Toten gen Mekka blicken können, verlaufen diese Gräberreihen fast immer schräg zu vorgegebenen Wegen und akkuraten Rasenkanten. In einigen Städten, sagt Bestatter El-Founti, habe man sich zwar böse vermessen. Aber meistens war das Quer-Denken erfolgreich. Allahu akbar!