TEXT: STEFANIE STADEL
Jeden Tag geht er durchs Museum. Nur wenn er ganz mies drauf ist vielleicht einmal nicht. Heute zeigt sich Kasper König gut gelaunt – kann er auch sein, mit Blick auf seinen jüngsten Erfolg. Und so trifft man sich vor Ort, oder besser »Vor dem Gesetz«. So heißt jene viel beachtete, hoch gelobte Schau. Es ist Königs letzte programmatische Ausstellung im Museum Ludwig – und der 68-Jährige legt sehr viel von einem Resümee hinein, von einem abschließenden Statement in Sachen Museum und Kunstbetrieb. Persönlich, mutig, nachdenklich fällt sein Abschiedsgruß aus, aber alles in allem denn doch durchaus hoffnungsvoll. Auch wenn mancherorts Unrecht und Verkommenheit schon jede Zuversicht vergessen machen.
Bei Paul Chan etwa, der im Halbdunkel ein grausiges Schattenspiel abspulen lässt: Sechs Stunden lang nichts als Perversion, Schändung, sexuelle Erniedrigung. König spart sich den Kommentar. Er kehrt den endlos kopulierenden Kreaturen den Rücken zu, freut sich am Start des gemeinsamen Ausstellungsrundgangs lieber über das positive Presseecho, das seiner Schau inzwischen auch aus den ausländischen Medien entgegenhallt.
Ja, die Abschiedsvorstellung sitzt – löst ein, was sie sich vorgenommen hat. Und das war, trotz Königs großem Kuratoren-Namen, nicht unbedingt abzusehen. Denn selten schienen die Ansprüche einer Ausstellung so ehrgeizig, die Themenstellung so komplex, das Konzept so eigenwillig. Und die Ankündigungen so hochtrabend: Es gehe um die »menschliche Existenz und Verletzlichkeit«, so heißt es. Um das »humanistische Potential der Gegenwartskunst«. Um die Conditio humana.
Und das ist noch nicht alles. »Ein Plädoyer für das Museum« will König gegen Ende seiner zwölf Direktorenjahre in Köln mit dieser Schau außerdem noch halten. Gemeinsam mit Thomas D. Trummer von der Siemens-Stiftung, der ihm als Co-Kurator zur Seite stand, setzt er dabei auf die doch recht spezielle Kombination von »Skulpturen der Nachkriegszeit« und »Räumen der Gegenwartskunst«. Zunächst wenig erhellend wirkt dabei der Kafka entlehnte Titel des Ganzen »Vor dem Gesetz« – die gleichnamige Parabel handelt von einem »Mann vom Land«, der immer wieder um Einlass in das Gesetz bittet – vergeblich bis zu seinem Tod.
Dass Kafka sich das Gesetz in dieser Geschichte als geschlossenen Raum denkt, gefällt König dabei besonders. Der Wächter davor entscheidet über die alles bestimmende Frage:Drinnen oder draußen? Es ist eine Idee, die bei den Werken der Ausstellung immer wieder mitschwingt. Fast zu nahe liegt der Gedankensprung zu Andreas Siekmann und den Abgewiesenen unserer Tage. Der Documenta-Teilnehmer von 2007 steuert in seinem akribisch recherchierten Zyklus sicher die politischste Arbeit der Ausstellung bei. Mit etlichen per Computer verfertigten Zeichnungen führt sie uns durch die Welt der Abgeschobenen, Ausgeschlossenen, Rechtlosen: Gemeinsam mit Dante und Vergil geht es etwa ins Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko, zu Flüchtlingsaufständen in Australien. Oder in die Ausländerbehörde nach Kassel.
König kann viel über diese Arbeit erzählen, ist offenbar sehr vertraut mit Siekmanns Route. Er kenne den Künstler aus seiner Zeit als Rektor an der Städelschule in Frankfurt. Ob bei der Auswahl für Köln solche persönlichen Beziehungen eine Rolle gespielt haben? Ja, auf jeden Fall, gibt der Kurator freimütig zu. »Nur wenn man sich mit etwas lange beschäftigt hat, dann weiß man auch, wie man es einbauen, was man ihm zumuten kann, ohne es irgendwie zu beschädigen.«
Nebenan mutet König einem nackten, ausgemergelten Bein, 1958 von Alberto Giacometti in Bronze gegossen, die Begegnung mit Thomas Schüttes stählernem Koloss namens »Vater Staat« zu; vier Meter groß schaut der gestrenge Mann in Mantel und Hut auf uns herab. Anderswo hockt hager, entkräftet, allzu tief gebeugt Gerhard Marcks‘ »Gefesselter Prometheus II« von 1948. In Sinnsuche und Selbstzweifel versunken, begegnet der gefallene Held einer Landschaft aus alten Holzbrettern, bestückt mit Ölfässern, Reifen und allerlei Auto-Schrott. »Building a Nation« nennt Jimmi Durham, Cherokee-Indianer, seine Großinstallation und spickt sie überall mit schockierenden Aussprüchen zum Teil durchaus namhafter Nordamerikaner. Darunter auch John Wayne, der 1971 zu Protokoll gab: »Ich habe nicht das Gefühl, wir hätten etwas falsch gemacht, als wir ihnen dieses großartige Land wegnahmen. Da waren eine Menge Menschen, die neues Land brauchten, das die Indianer egoistisch für sich behalten wollten.«
Es klinge vielleicht absurd, so König. Doch »das Beste, was dieser Ausstellung passieren konnte, war das fehlende Geld.« Zweimal habe man das Projekt verschieben und immer wieder über Spar-Varianten nachdenken müssen. In dieser Zeit sei nicht nur der Schauplatz aus dem für Wechselausstellungen vorbehaltenen Untergeschoss in das lichte, bisher allein für die Sammlung reservierte zweite Obergeschoss verlegt worden. Ein weiteres Ergebnis der eingehenden Diskussionen war die jetzt so wesentliche Einbeziehung der 50er-Jahre-Skulpturen.
Punktuell und präzise platziert finden sich diese meist sehr ausdrücklichen Umschreibungen von Demut, Scham, Verzweiflung auf dem Parcours. Fast immer Menschenbilder, die ausgeklinkt scheinen aus dem Fortschritt der Moderne und in unseren Augen manchmal ziemlich pathetisch wirken können, die aber an den Orten, wo sie nun im Museum Ludwig kauern, sitzen, stehen, oft genug erstaunliche Wechselwirkungen mit den jüngeren Arbeiten eingehen.
Der Rundgang macht Halt zwischen Germaine Richiers albtraumartigem Spinnenwesen »Le Griffu« von 1952 und jenem makabren »Carousel« von Bruce Nauman, das unermüdlich seine quälenden Runden dreht – eine Horde strangulierter Tierkadaver im Schlepptau. König überlegt kurz. Natürlich versuche er das alles zu objektivieren, bemerkt er dann. Aber es werde ihm immer klarer, wie sehr doch auch die eigene Biografie in die Schau hineinspiele: »Mit zwölf Jahren bin ich aus dem total katholischen, traditionellen Münsterland per Anhalter nach Frankfurt gefahren, um bei den Auschwitz-Prozessen dabei zu sein.«
Auf eigene Erfahrung baut zweifellos auch Königs rhetorisches »Plädoyer für das Museum«: Er spricht von unserer Zeit, die immer visueller und damit auch immer blöder werde. Von Kunstwerken, die gelöst von ihrem historischen und kulturellen Background von manch einem Betrachter bloß noch »gescannt« werden. Dagegen setzt er die »im Grunde sehr konservative« Institution Museum. Für König ein Ort, an dem bildende Kunst als Teil des kulturellen Gedächtnisses und der Identität einer Gesellschaft archiviert, reflektiert und für jeden erfahrbar werde.
Eigentlich sei der Gegenstand gar nicht so entscheidend. »Vielleicht ist ja die Musik noch tauglicher, und die Beschäftigung mit Mathematik kann wohl ähnliche Erfahrungen bringen – es muss phantastisch sein, habe ich gehört.« Gleiches gelte aber in jedem Fall auch für die eingehende Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst: Sie könne das Leben vielleicht nicht besser, aber in jedem Fall intensiver machen.
Die Werke der Ausstellung sind wohl dazu angetan – auch weil sie, ohne belehren zu wollen, wirken. Heftig wie der einst von Bruce Nauman geforderte »Schlag in den Nacken«. Kämpferisch wie jene groteske Truppe merkwürdig verkleideter Fremdlinge, die Pawel Althamer gemeinsam mit seinen beiden Söhnen auf die Beine gestellt hat. Oder zart dahingepudert wie Karla Blacks federleicht-flüchtige Installation aus Gipspulver und pastellfarbenem Zellophan.
Im Katalog-Vorwort schreibt König, dass ihm bei der Auswahl die Ernsthaftigkeit und Kompromisslosigkeit der Werke ein Anliegen gewesen seien. Warum hebt er das so hervor – sind solche Qualitäten vielleicht seltener geworden? »Nein, das sollte keine Zeitkritik sein«, wendet er ein. Doch irgendwie spielt die doch herein, wenn König gleich darauf bemerkt, wie hochtourig und affirmativ der Betrieb doch inzwischen sei. Wenn er von Kollegen erzählt, die sich nur noch gegenseitig bestätigen und von Künstlern, die drei, vier Ausstellungen gleichzeitig bedienen, weil sie – einmal oben angekommen auf dem Karussell – ungeheure Angst hätten, wieder herunterzukippen.
Aber ist das Museum nicht längst Teil dieses aberwitzigen Systems? Der Kurator nicht auch so etwas wie ein Wächter, der entscheidet, wer dabei ist und wer draußen bleiben muss – vor dem Museum? König nickt: Deshalb wolle er sich zum Abschied auch noch einmal an die eigene Nase fassen.
Besonders vor diesem wenig Hoffnung verheißenden Hintergrund kann man seiner letzten Themenausstellung im Museum Ludwig durchaus positive Seiten abgewinnen. Beweist sie doch, dass es auch heute – in unseren eiligen, ach so oberflächlichen Zeiten – noch funktioniert: Das Museum als Ort, an dem sich in aller Ruhe existenzielle Fragen erörtern lassen.
Vor dem Gesetz. Skulpturen der Nachkriegszeit und Räume der Gegenwartskunst; Museum Ludwig, Köln; bis 13. Mai 2012; Tel. 0221/22126165. www.museum-ludwig.de