Ob Goethe, Hölderlin oder Heine – sie sehnten sich. Der eine nach einem Mädchen, der andere nach Lorbeer, der Dritte nach Deutschland, Kindheit und Sauerkraut. Für Ives Thuwis ist Sehnsucht einfach »ein sehr schönes deutsches Wort, schwierig zu übersetzen.« Schön genug, um daraus im Auftrag des Düsseldorfer Forum Freies Theater eine Tanztheaterproduktion mit Jugendlichen zu machen. Was bedeutet Sehnsucht für den angesagten Regisseur und Choreografen von Jugendstücken, der mit seinem Stück »Adieu« u.a. zum Festival Impulse 2005, zur Tanzplattform Deutschland 2006 nach Stuttgart und jüngst zum Festival Theaterzwang nach Dortmund geladen war? Der Belgier blickt nachdenklich an die Decke des Cafés, als könnte er dort die Antwort ablesen: »Es ist ein Verlangen nach etwas, das man vielleicht nie gehabt hat. Oder gar nicht haben will.« Dabei scheint Tuwis aber – anders als die leidenden Dichter – schmerzfrei zu sein: »Sehnsucht ist einfach ein schönes Gefühl.«
Im Proberaum des FFT, wo Thuwis’ »Sehnsucht« Gestalt annimmt, stehen ein Tisch und ein paar Stühle, ein altes Sofa, ein rot-schwarzer Ledermuff, wie man ihn aus den 70er Jahren kennt. Bücher und eine Klorolle liegen herum, ein Teddy, Ernie und andere Kuscheltiere. Objekte der Sehnsucht? Vorne links ein Fernseher, größere und kleinere Perserteppiche bedecken Teile des Bodens. Sieben Jugendliche fläzen sich mit entspanntem Gesichtsausdruck herum.
Der 43-Jährige steht – eine Stunde vor dem Gespräch – mitten in dem kubusartigen, schwarzen Raum, gibt Anweisungen, lacht viel, fühlt sich sichtlich wohl. Stellt Musik an. Die schlaffe Jugend springt auf und sortiert sich zu einem schmissigen Revuetanz. »You don’t own me«, schmettert die Truppe – Thuwis vorneweg. Schwungvolle Sidesteps, koketter Hüftschlenker: »Don’t tell me what to do …« Kommt gut. Oder nicht? Nico greift sich ans Herz, stöhnt leicht hysterisch und fällt dramatisch zu Boden. Minutenlang sitzen oder liegen die anderen herum, ganz locker, als wäre Pause. Dann beginnt einer nach dem anderen zu gestikulieren, einige synchron. Und Schluss.
Die Atmosphäre ist auffallend entspannt, freundschaftlich-humorvoll und doch konzentriert. Souverän akzeptieren die jungen Laien Thuwis’ Kritik. Sein leicht flämisch eingefärbtes »Alice, zuviel Dekolleté! « erwidert diese mit einem Grinsen – und zupft ihr Kleid oben herum zurecht.
Insgesamt 30 Produktionen hat Thuwis mittlerweile kreiert, meist für junge Leute. Warum immer Jugendliche, warum Laien? »Es macht einfach Spaß«, sagt der Mann aus Gent. Mit seinem verwaschenen T-Shirt, Jeans, Turnschuhen und einem schelmisch-jungenhaften Lächeln sieht er aus wie einer von ihnen. »Erwachsene «, stapelt er ein bisschen tief, »nehmen die Arbeit zu ernst, wollen immer Kunst machen. Ich nicht.«
Allerdings, räumt Thuwis ein, haben Profis auch Vorzüge: Sie werfen nicht alle Probenpläne in kürzester Zeit über den Haufen, müssen nicht wegen Erkältung, Hausaufgaben oder Nebenjobs absagen. Heute sind gerade mal sieben der vierzehn Mitwirkenden da. Der Spielleiter zuckt grinsend mit den Schultern: »Man muss viel Geduld haben. Aber ich kriege auch viel zurück.« Aus seiner Arbeit mit Jugendlichen seien seine besten Stücke hervorgegangen, sagt Thuwis ganz uneitel. Assoziativ angelegt, atmen sie eine berauschende Frische, Natürlichkeit und Lebensenergie.
Unverbraucht wie seine Akteure ist auch Thuwis’ Arbeitsweise. Rein intuitiv wählt er die Darsteller aus. Meist haben sie kaum Talent und noch nie getanzt. Neugierig machen sollen sie ihn. »Mir geht es nicht um den Tanz«, stellt er klar, »obwohl ich Tanz sehr mag. Ich bin ja selbst Tänzer. Mir geht es um das, was ich sagen will.« Und wie intensiv hat Ives Thuwis seine eigene Jugend erlebt? »Es war eine normale, langweilige Zeit.« Brav will er gewesen sein. Ganz gut in der Schule. Keine Drogen. Keine Frauen. Der Vater war beim Militär, die Mutter Geschäftsführerin eines Supermarkts. Mit zwölf wurde der Junge, genauso wie seine fünf Geschwister, aufs Internat geschickt. Oft sei er allein gewesen.
Großartige Träume hatte Thuwis damals nicht. Er dachte, er würde einmal so leben wie seine Eltern: Wohnung, Kinder, von Beruf vielleicht Lehrer. Dann aber spielte er in der Schule Theater. Er sah Béjarts »Bolero«, Keersmaekers »Rosas danst Rosas« und Jan Lauwers Needcompany – hatte drei Aha-Erlebnisse. Es folgten das Studium an der Tanzakademie in Tilburg in den Niederlanden, die Arbeit beim dortigen Danserscollektief und erste Engagements in Belgien, Holland und Deutschland. Seit 1990 ist er dem »Speeltheater Gent« verbunden.
Von seiner eigenen Jugend ist Ives Thuwis zweierlei geblieben: die Musik seiner Zeit, die er in die Stücke einbaut, und der Wunsch nach einer Familie. Hinzu kommt seit kurzem ein gewisser Neid auf die heutige Jugend. Auf ihre Möglichkeiten und Chancen, vom Internet bis zu den Schulaustauschprogrammen. All das gab es früher nicht. Dieses Gefühl allerdings hat Ives Thuwis erst während der Proben entdeckt. Sehnsucht hat viele Gesichter.
7., 8. und 10. Juni 2006 im FFT Juta. Tel.: 0211/87 67 87 18. http://www.forum-freies-theater.de