Die Kollaboration zwischen dem Theater an der Ruhr und der aus dem Veneto kommenden Gruppe Anagoor hat vor einigen Jahren mit Gastspielen begonnen. Mittlerweile entwickeln Regisseur Simone Derai und seine Mitstreiter in Mülheim mit dem dortigen Ensemble neue Arbeiten, die zu den interessantesten Projekten gehören, die gerade auf den Bühnen in NRW zu sehen sind. Derai hat mit Anagoor und dem Theater an der Ruhr eine eigene Bühnensprache entwickelt. Auf der einen Seite sind seine Inszenierungen sehr nah am frühen antiken Theater mit seinen großen erzählenden Monologen. Auf der anderen wirken sie durch den innovativen Einsatz vorproduzierter Videos und durch ihr Sounddesign, das elektronische Musik und verfremdete Geräusche so vereint, dass sie den sichtbaren durch einen eigenständigen akustischen Raum erweitern, der das Geschehen auf der Bühne kommentiert oder auch konterkariert, extrem gegenwärtig.
All diese Elemente prägen auch die Uraufführung »Germania. Römischer Komplex« in der Simone Derai mit Texten von Tacitus, Antonella Anedda, Frank Bidart und Durs Grünbein einen neuen Blick auf die Varus-Schlacht und das Verhältnis zwischen dem römischen Reich und den germanischen Stämmen wirft. In diesem Blick vermischen sich Vergangenes, Tacitus‘ von Bewunderung und Entsetzen erfüllte Beschreibungen der Germanen, und Zeitgeschichtliches wie ein Monolog von Roberto Ciulli, in dem er über seine Ankunft in Deutschland in den 1960er Jahren spricht und die Erfahrungen italienischer Arbeiter im Wirtschaftswunderland eindringlich beschreibt.
Wie in den frühesten Stücken Aischylos‘, etwa »Die Perser«, gibt es in »Germania. Römischer Komplex« praktisch keine Handlung und auch keine das Geschehen vorantreibenden Dialoge. Simone Thoma, Bernhard Glose, Marco Menegoni schlüpfen zwar in Rollen. So betritt Thoma den mit ausgeblichenen Gebeinen übersäten Bühnenraum als eine Art Archäologin, die versucht, in den verstreuten Skelettteilen wie in Schriftstücken zu lesen und so das vergangene wie gegenwärtige Morden zu verstehen. Menegoni ist zu Beginn der römische Annalenschreiber, Glose der von ihm beschriebene Germane. Später verkörpern sie die Feldherren Flavus und Arminius, von denen Tacitus in seinen »Annalen« berichtet.
Spiel mit der Stimme
Aber jede dieser Szenen bleibt Monolog und Erzählung. Jenseits einiger stilisierter Gesten und Bewegungen gibt es kein Spiel, keine großen Aktionen auf der Bühne. Dafür arbeiten die Spielenden umso intensiver mit ihren Stimmen. Sie erschaffen Bilder und Situationen, die in den Köpfen des Publikums entstehen. Zugleich zieht Derai mit zwei längeren Videos eine kommentierende Ebene ein, die ein wenig an die Chorpassagen in der antiken Tragödie erinnert. Im ersten spielt das Mülheimer Ensemble den Moment nach, in dem Kaiser Augustus der abgeschlagene Kopf des Varus überbracht wird. Das zweite zeigt eine heutige Waldszenerie mit spielenden Kindern, in die immer wieder kurze Einstellungen von Bernhard Glose als Germanen in der Römerzeit eingeschnitten sind. Diese Filme erklären nichts. Sie verleihen dieser Sprach- und Gedankenperformance auf eine lapidare, ganz und gar sachliche Weise eine zusätzliche Komplexität. Geschichte wiederholt sich nicht, aber alles hängt zusammen und steht in einem blutigen Dialog, der mehr und mehr Tote und Trümmer anhäuft.
Mit »Vom Licht«, einer Adaption von Anselm Nefts gleichnamigen Roman über zwei Kinder, die von ihren Zieheltern von der modernen Welt isoliert werden, scheinen Derai und Anagoor in eine ganz andere Richtung als bei »Germania« zu gehen. Statt auf die großen historischen Zusammenhänge blicken sie nun in einen privaten Mikrokosmos. Doch auch diese Arbeit kreist um die Gewaltverhältnisse, die das Zusammenleben bestimmen, und sucht nach Wegen, sie hinter sich zu lassen.
»Germania. Römischer Komplex«: 5. und 6. März
»Vom Licht«: 19. (Premiere), 20. und 26. März