TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
Paradiese sind dazu da, um aus ihnen vertrieben zu werden. Das Paradies ist für Andrea Hanna Hünniger eine verwilderte Kleingartenanlage am Rande der Weimarer Plattenbausiedlung, in der sie aufgewachsen ist. Ein Ort zum Verstecken; hier rauchte man die ersten Zigaretten und Joints, es wurde gegrillt, später brannten dort alte Trabbis aus. Und Anfang der 90er wurden in diesem Paradies wieder die stillgelegten Bahngleise in Betrieb genommen, für die ICE-Strecke von Berlin nach München. Ach ja: Florian hat im Paradies seinen Kopf auf die Gleise gelegt und auf den Schnellzug Richtung München gewartet, gerade mal 14 Jahre alt.
Eine Verklärung der DDR-Vergangenheit oder ihrer Jugend findet nicht statt in Hünnigers Buch. Glücklicherweise, und – warum auch? Die Autorin ist fünf Jahre alt, als die Mauer im entfernten Berlin fällt; zu jung, um sich zu erinnern, was davor war – sie kennt noch nicht mal mehr die Farbe der FDJ-Halstücher. »Der Fall der Mauer war für uns schon Teil einer unbekannten Vergangenheit. Eine Erinnerung von anderen.« Die 90er sind für sie schlicht jene Zeit, in der sie erwachsen wird, sich in der Welt orientieren muss, und in der sich um sie herum alles verändert. Die Plattenbausiedlung, die einen neuen Anstrich bekommt und deren Bewohner immer öfter wegziehen. Die Welt drumherum, mit den aus dem Boden gestampften, riesigen neuen Supermärkten, in denen es Helmut Kohl-Gedenkkuchen gibt, dessen Verpackung man gleich mitessen kann. Neue Möbel werden angeschafft, während die alten auf der Deponie landen, wo »riesige Bagger tote Wohnzimmer umschichteten«. Auch die Menschen ändern sich, sie werden arbeitslos, pflanzen als ABMler Blumen an, beginnen zu trinken oder scheren sich eine Glatze. Hünnigers Vater, der in der SED war, sitzt wortkarg auf dem Sofa und zeichnet alte Filme auf VHS auf; die Mutter merkt, dass ihr Doktortitel auf dem Arbeitsamt nicht mehr viel wert ist. Auf dem Weg in den Urlaub scheitern die Eltern schon an der französischen Grenze. Dennoch: »Eine Revolution gab es hier nicht.«
Andrea Hanna Hünniger ist 1984 in Weimar geboren und wuchs in den 90er Jahren in eben jener »Platte« auf. Sie studierte Literatur, Geschichte und Philosophie in Göttingen und Berlin und war Chefredakteurin eines Göttinger Stadtmagazins. Sie schrieb als freie Journalistin für die FAZ und FAS; heute ist sie Autorin der Zeit. Ihr Buch »Das Paradies – Meine Jugend nach der Mauer« wird vom Verlag als Sachbuch geführt. Bei Hünniger ist kein Platz für Sentimentalitäten, es werden keine DDR-Waschmittelmarken oder Sandmännchenfolgen repetiert. Es ist ein literarisch-autobiografischer Text; Hünniger schreibt nüchtern über eine Zeit, die so lange noch gar nicht her ist und die in der deutschsprachigen Literatur bislang ein wenig zu kurz gekommen ist, abgesehen von Versuchen über das erblühende Berlin der 90er, mit seitenlangen Beschreibungen durchkokster Techno-Nächte. In den großen Familiendramen wie Uwe Tellkamps »Turm« oder Eugen Ruges »In Zeiten des abnehmenden Lichts« steht immer die DDR im Fokus. Bei Hünniger ist es der Kleinstadtmief Weimars, in dem gelebt werden muss: »In Weimar begegnete man, wo man hinging, Hitler oder Goethe.« Die Spuren der Vergangenheit sind allgegenwärtig, auch die des real existierenden Sozialismus.
Hünniger hat aber nur den Nachwende-Kapitalismus bewusst erlebt, und so ist das letzte Kapitel »Ausland« auch eine Selbstvergewisserung der Autorin, eine Suche nach den Wurzeln – aufgewachsen zwischen zwei Welten, weitgehend ideologiefrei, ohne FDJ-Tuch, dafür noch in den 90ern mit den Ritualen der Elterngeneration wie der Jugendweihe vertraut gemacht worden. Während eines Urlaubs in Bayern, wo sie auf gleichaltrige Westdeutsche trifft, wird ihr klar: »Gleichzeitig wussten wir hier, was uns fehlte, nämlich etwas, worauf wir uns beziehen konnten. Eine Identität. Uns klebte die DDR am Arsch, eine Diktatur, sonst nichts.«
Andrea Hanna Hünniger, »Das Paradies – Meine Jugend nach der Mauer«. Tropen-Verlag / Klett-Cotta, Stuttgart 2011, 219 S., 17,95 Euro