TEXT: KATRIN PINETZKI
Jahrzehnte lang haben nur Menschen mit Sprühdosen diesen Ort unter der Brücke besucht, allein um an der Betonwand den Beweis für die eigene Existenz zu hinterlassen.Dass es ein besonderer Ort ist, den sie mit einem Schriftzug markierten wie ein Hund sein Revier, das ahnten sie wohl nicht.
Es ist aber ein besonderer Ort: Oben fließen die Autos auf der Bundesstraße 229, unten fließt der sprudelnde Morsbach in das trüb-träge Wupperwasser. Ein mächtiger Brückenpfeiler aus Beton steht exakt an der Schnittstelle des Drei-Städte-Ecks. Hier also sind Remscheid, Wuppertal und Solingen zu Ende – oder fangen sie hier an? Auch Menschen mit guter Orientierung geraten in dieser Landschaft leicht ins Taumeln – nicht nur wegen der vielen Farben Grün, die an einem sonnigen Sommertag die Sinne angenehm verwirren. Der menschliche Drang, Kategorien zu bilden und Ordnung zu schaffen, läuft hier ins Leere. Es ist das Berlin- Phänomen: War hier jetzt Ost-Berlin? Oder schon Westen? So steht man an der Grenze zwischen Wuppertal und Solingen, blickt aufs nahe Remscheid – oder war es umgekehrt? – und resigniert, und findet es am Ende herzlich egal. Denn die Gegend ist kein Niemandsland mehr – sie heißt nun »Müngstener Brückenpark «, das ist Einordnung genug.
Die drei Kommunen haben schon vor fünf Jahren beschlossen, gemeinsame Sache zu machen. Mit dem Strukturprogramm »Regionale 2006«, gefördert vom Land NRW, zeigen sich die traditionsreichen Industrie- Städte Remscheid, Solingen und Wuppertal gemeinsam stark. Und mit der Regionale, die das Verbindende betont, bekam die Morsbach- Mündung in die Wupper plötzlich Symbolkraft. So kam es, dass aus dem Un- Ort unter der niedrigen Brücke ein offizieller Aufenthaltsort wurde, der Parkplatz mit Park verbindet und der zum Verweilen einlädt.
Heute gibt es einen Weg, der unter der Brücke her über den Fluss führt. Weil dieser Weg aus Stahlgitter besteht, sieht man das Wasser unter seinen Füßen fließen und kann in Ruhe beobachten, wie sich Morsbach und Wupper vereinen. Die Graffiti sind geblieben, als Erinnerung an das einstige Niemandsland.
Freilich ist dies alleine noch kein Grund, sich an den Schnittpunkt des Drei-Städte-Eckes aufzumachen. Der wahre Grund liegt ein paar hundert Meter entfernt, ist mehr als hundert Jahre alt und gut hundert Meter hoch.
Jedes Kind im Bergischen Land lernt den Superlativ, der mit dem Bauwerk verbunden ist: Die Müngstener Brücke ist die höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands. Weit spannt sie sich über das Tal der Wupper, eine trotz ihrer enormen Höhe grazile Konstruktion, die sich imposant über die Natur erhebt und sie ansonsten in Ruhe lässt. Eine Brücke, so riesig, dass sie unmöglich auf ein Foto zu bannen ist – unter anderem auch deshalb, weil Hunderte Bäume den Blick versperrten.
Der Mann, der den Menschen den freien Blick auf die Müngstener Brücke wiedergegeben hat, heißt Lorenz Kehl. Der Landschaftsarchitekt vom Berliner Atelier Loidl hat den Wettbewerb »Müngstener Brückenpark « gewonnen. Die Aufgabe bestand darin, eben diesen Park zu erschaffen, denn den gab es nicht. Brücken-Touristen, die im Laufe der Jahrzehnte immer spärlicher kamen, fuhren mit dem Auto am Wupper-Ufer entlang. Sie konnten an einer Minigolf-Anlage mit Imbiss, die ihren 1950er-Jahre-Charme mühelos erhalten hat, Postkarten kaufen und die hiesige Spezialität »Bergische Waffeln« in Plastik abgepackt zum Andenken erwerben.
Sie schauten zur Brücke hoch und fuhren wieder. Junge Leute aus der näheren Umgebung kannten die Brücke vor allem bei Nacht, weil unter ihr im pittoresken Fachwerkhaus bis vor einem Jahr die Rock-Disko »Exit« untergebracht war. Heute, das hat Lorenz Kehl geschafft, kommt man wieder bei Tag, und man mag sich so schnell auch nicht trennen.
Nicht, weil Kehl etwas Spektakuläres schuf – sondern gerade, weil er es nicht tat.
In der Ausschreibung zum Wettbewerb wurde unter anderem verlangt, eine Fußgängerbrücke über die Wupper zu entwerfen, damit die Besucher des Brückenparks von Solingen nach Remscheid spazieren können und die Remscheider schneller in den neuen Park gelangen, anstatt wie bisher einen Trampelpfad am Ufer zu benutzen und dabei den naturgeschützten Eisvogel zu stören.
Lorenz Kehl hat diese Brücke weg gelassen – und trotzdem gewonnen, einstimmig sogar.
»Man darf Ausschreibungen nicht so ernst nehmen«, sagt er, »es wäre doch sträflich, der Müngstener Brücke eine andere entgegen zu setzen!« Damit die Menschen trotzdem trocken ans andere Ufer gelangen, um dort zum Beispiel zum Schloss Burg zu wandern, erfand Kehl eine Fähre, die über dem Wasser verkehrt – eine Schwebe-Fähre. »Eine typische Bierdeckel-Idee«, sagt Lorenz Kehl, entstanden in einer Kneipe, später geprüft und für realisierbar befunden. Die Jungfernfahrt ist für August angekündigt. In die Schwebefähre passen dann bis zu zehn Gäste. Sie wird von einem Fährmann betrieben, der eine von zwei straff gespannten Seilen gehaltene Gondel über die Wupper pumpt, ähnlich wie bei einer Eisenbahn-Draisine. Dabei berührt die Gondel das Wasser nicht, sie »schwebt« darüber – eine phantasievolle Entsprechung zur berühmten Wuppertaler Schwebebahn und eine dann doch spektakuläre, weil einzigartige Erfindung, die aber den Landschaftseindruck nicht trübt.
Wer an der Schwebefähre angelangt ist, ist auch schon am Ende des neuen Müngstener Brückenparks, der sich entlang der Wupper schlängelt und vom Fluss auf der einen, von einem Hang auf der anderen Seiten begrenzt wird. Zuerst ließ Kehl rund 300 Bäume fällen – freie Sicht auf die Brücke. Dann wurden die Autos verbannt. Das Naheliegende zu planen – nämlich eine Promenade direkt am Ufer – hat Kehl vermieden, unter anderem, weil die Wupper Schutzgebiet ist für Vögel und »nicht betreten werden« darf. Daher führt die Promenade nun dicht am Hang entlang. Zwischen Weg und Wupper hat Kehl Rasen anlegen lassen, einen Rasen, der Wellen schlägt: Mal steigt das Gelände zum Wasser hin leicht an, mal fällt es leicht ab. Die gemauerte Böschung greift die Schrägen auf und sorgt für eine leichte, angenehme Irritation beim Betrachter: Wer hat denn die Landschaft gekippt? Zugänge zum Wasser gibt es trotzdem reichlich. Einige Wege führen nicht nur zum, sondern ein Stück über den Fluss. Und so steht man am Ende des Steges wie auf einem Balkon, sechs Meter über der Wupper, die dort sehr niedrig ist, und beobachtet die Fische oder lässt den Blick flussaufwärts schweifen – jedenfalls so lange, bis ein Rattern die Ruhe stört: In hundert Metern Höhe fährt die Regionalbahn über die Müngstener Brücke von Remscheid nach Solingen, oder eben umgekehrt. An anderen Stellen hat Kehl die Böschung entfernt und dem Fluss ein wenig mehr Platz verschafft. Durch diesen Trick darf die Wupper an diesen Stellen dann doch betreten werden. Große, flache Steine am Ufer sind für Kinder Aufforderung genug, dort zu plantschen; Holzbänke und sogar -liegen dagegen eine Einladung an Erwachsene, den Blick zu genießen.
Zwei Jungen haben die Bitte, den frisch verlegten Rasen vorerst nicht zu betreten, ignoriert. Sie sitzen nun auf dem Steg und hängen ihre Füße ins Wasser. Kehl lächelt kurz bei ihrem Anblick und versucht, seinen Stolz nicht allzu offensichtlich zu zeigen. »Das ist gut«, sagt er, »so hat man sich das vorgestellt.«
Eine »Verneigung vor der Brücke« sei sein Park, sagt Kehl, er spiele die Nebenrolle, um ihr den großen Auftritt zu gönnen. Wie oft er im Bergischen Land gewesen sei, fragt man, um sich für den Wettbewerbs-Entwurf inspirieren zu lassen. Nie, sagt Kehl. Er hatte Karten und Fotos – mehr nicht. Sein Müngstener Brückenpark ist Ergebnis einer Planung am Reißbrett. Erst kurz vor der Abgabe sei er einmal vorbei gekommen und mit dem Auto bis zur Brücke gefahren, ohne auszusteigen.
»Man braucht eine starke Idee«, sagt Kehl, »dabei darf man sich nicht von Nebensächlichkeiten abbringen lassen.« Der Erfolg gibt ihm recht. Kehls Park-Projekt, das sich Land und Städte 6,7 Millionen Euro kosten ließen, ist nahezu eins zu eins umgesetzt worden. Nur das Leitsystem durch den Park gewann die Künstlerin Ulrike Böhme.
Statt Info-Tafeln schuf Böhme stählerne Plattformen, auf denen Rätselaufgaben zu lesen sind. Die Lösung muss sich der Besucher erklettern: Wer auf die Kunst-Steine steigt, zu dem sprechen die geheimnisvollen Objekte und erzählen historische Anekdoten.
»Wer sie hat, macht Augen, Nase und Ohren auf«, steht etwa auf einer der Rätselsteine, »wer glaubt, alles zu wissen, hat sie nicht und bleibt für immer dumm.« Gesucht wird die Neugier, verrät die Stimme aus dem Stein und erzählt die Geschichte von einem Souvenirladen, der dort einmal stand, als die Neugier größer war als heute und die Menschen versuchten, die höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands auf ein Foto zu bannen.