Er war vertraut mit dem Werk, bewunderte die »Gelassenheit der Antike«, die aus Wilhelm Lehmbrucks Kunst sprach. Beim Anblick von dessen neuester Schöpfung, der »Knienden«, aber blieb Julius Meier-Graefe die Luft weg. Mitten im Künstleratelier sah er sie stehen, eine »Frauengestalt, die nicht aufhörte «. »Meine Enttäuschung kannte keine Grenzen«, so gestand der große Kunsthistoriker. »Das Machwerk war alles Mögliche, nur keine Plastik«. Etwas später wird Meier-Graefe zurückkehren zur »Knienden«, er wird die »Sprache ihrer Glieder« vernehmen und sein negatives Urteil revidieren.
In Lehmbrucks Schaffen markiert die stark überlängte, raumgreifende, ausdrucksbetonte Frauengestalt von 1911 einen echten Umschwung: Der Meister ist 30 Jahre alt, als er sie vollendet, er hat den Schritt zum eigenen Stil vollzogen. Seine Zeitgenossen verstört wohl vor allem die beachtliche Modernität dieser Schöpfung. Die Reaktionen reichen von tiefer Ablehnung bis zu jubelnder Bewunderung.
Heute gehört die »Kniende« sicherlich zu den prominentesten Stücken des Bildhauers – kaum ein Kunstlexikon, in dem die schlanke Schöne mit dem geneigten Haupt nicht abgebildet ist. Es sind Werke wie dieses, die Lehmbrucks Ruf als herausragender Bildhauer der Klassischen Moderne begründen.
Zu Hause war und ist der Meister in Duisburg. 1881 kam Wilhelm Lehmbruck im jetzigen Stadtteil Meiderich zur Welt. Und bis heute bewahrt Duisburgs Lehmbruck-Museum beinahe den gesamten Künstlernachlass – alle 90 erhaltenen Plastiken sind mindestens mit einem Abguss vertreten. Hinzu kommen Gemälde, Zeichnungen und druckgrafische Blätter. So ist das Institut im Kantpark der einzige Ort, an dem man sich einen repräsentativen Überblick verschaffen kann über jenes so kurze, konzentrierte, aber doch so vielgestaltige Lebenswerk.
Als Hausherr steht Lehmbruck nun auch im Rampenlicht der Jubiläumsfeierlichkeiten.
Begangen werden »100 Jahre moderne Skulptur in Duisburg«. Man beruft sich auf den Dezember 1905, als einige Bürger eine Initiative starteten: Sie riefen auf zum Engagement für dauernde »Ausstellungen von Gemälden, Skulpturen und insbesondere von kunstgewerblichen Gegenständen«. Damit war der Grund bereitet für das spätere Museum als Zentrum internationaler Skulptur. Eine kleine Schau rollt jetzt die ganze Geschichte auf.
Fotos und Dokumente erzählen von den bescheidenen Anfängen, aber auch vom 1964 errichteten und 1987 erweiterten Museumsgebäude. Dem Sohn und Architekten Manfred Lehmbruck ist dazu eine eigene kleine Präsentation gewidmet. In Duisburg schuf der Baumeister eine perfekt passende Hülle für die Arbeiten seines Vaters, dem das Festprogramm alle Ehre erweist.
Wie ein roter Faden zieht sich Wilhelm Lehmbrucks große Werkschau durch Säle, Gänge, Galerien. Neben der skulpturalen Prominenz kommen dabei auch weniger geläufige Facetten des OEuvres zum Tragen. So lernt man den Bildhauer als Illustrator kennen oder sieht ihn leidend in seiner unglücklichen Liebe zu der Schauspielerin Elisabeth Bergner. Doch muss der Meister nicht den Alleinunterhalter spielen. Es begleiten ihn in Duisburg etliche Gefährten: Beckmann etwa, Brancusi oder die Brücke-Künstler stehen für das zeitgenössische Umfeld. Hinzu kommen zig Nachfahren aus Lehmbrucks mehr oder weniger weiter Künstler-Verwandtschaft, die das »Menschenbild der Moderne« bis in die Gegenwart verfolgen. Museumschef Christoph Brockhaus hat sie sämtlich im Fundus des Hauses zusammengesucht.
Daneben werden im Jubiläumsaufgebot auch fremde Kräfte eingesetzt. In tragenden Rollen treten Lehmbrucks französische Wegbereiter auf, Auguste Rodin und Aristide Maillol. Die Starbesetzung überrascht kaum – seit Jahrzehnten ist die prägende Wirkung dieser in ihrer Kunst so gegensätzlichen »Väter der modernen Skulptur« auf den Bildhauer aus Duisburg nachgewiesen, doch eine Ausstellung, die Lehmbruck mit seinen wichtigsten Anregern vereint, gab es aber bisher nicht. Daher fügt sich das spannungsreiche Dreier-Meeting »Lehmbruck, Rodin und Maillol« bestens ins Festprogramm, erlaubt vertiefende Einblicke.
Von einem echten Dialog kann dabei allerdings nicht die Rede sein. Denn Rodin und Maillol bleiben offenbar völlig unbeeindruckt von dem jungen Deutschen, während dieser alles aufsaugt und weiterverarbeitet, was ihm interessant erscheint an den beiden Antipoden – hier Maillol mit seiner klassisch-kühlen Statuarik, dort Rodins malerischer, impressionistischer Skulpturenstil, seine expressiv gesteigerten Formen.
Die erste wegweisende Begegnung Lehmbrucks mit dem damals auch hierzulande schon hoch angesehenen Rodin fällt ins Jahr 1904, als der Kollege mit einer Einzelausstellung in Düsseldorf gastiert. Voll Begeisterung fasst Lehmbruck seine Eindrücke in ein langes Loblied auf das im berühmten »Kuss« vereinte Liebespaar: »Es fühlt sich eins, im Glücke sich verschlingend, / Der Welt verloren, eine Harmonie«, so dichtet der Bildhauer. Er ist Anfang 20, als er diese Zeilen niederschreibt.Er studiert noch an der Düsseldorfer Kunstakademie, pflegt den Stilpluralismus der Jahrhundertwende und übt sich in sozial oder neoklassizistisch bestimmter Plastik.
Die Retrospektive gibt genügend ziemlich konventionelle Werkbeispiele aus dieser sehr frühen Phase. Das fundamental Neue in Rodins Arbeit überwältigt Lehmbruck nun zwar, doch schreckt er keineswegs voller Ehrfurcht zurück.Auf dem Weg zum eigenen, unverwechselbaren Ausdruck orientiert er sich ohne Scheu an dieser und bald auch an anderen Größen. Ganz offensichtlich spiegelt sich der Umgang mit Rodins gestalterischen Eigenheiten in der Ausformung des Unfertigen – so lässt Lehmbruck Büsten aus amorpher Basis erwachsen, schält glatte Gesichter aus anscheinend unbearbeitetem Grund wie im 1907 entstandenen »Schlaf«.
Von nun an schlägt sein Schaffen in raschem Wechsel unterschiedliche stilistische Saiten an, fast jedes Jahr findet der Künstler andere bildnerische Lösungen. Eine wesentliche Wendung erfährt das Werk 1910, als der junge Familienvater seine durch Grabplastik und Porträtaufträge einigermaßen gesicherte Existenz daheim aufgibt, um in die damalige Kunsthauptstadt Paris umzuziehen, wo auch seine beiden großen Favoriten Rodin und Maillol weilen. Meier-Graefe hat den hoffnungsvollen Newcomer dort wiederholt besucht. »Der Bildhauer, ein mittelgroßer stämmiger Bauernjunge«, so beschreibt er ihn. »Blond, wortkarg, westfälischer Akzent«.
Das Image des introvertierten schweigsamen Künstlers haftet Lehmbruck bis heute an und scheint nicht ganz in Einklang zu bringen mit dem Bild des aktiven Beobachters, der er war. In Paris sucht sein waches Auge verstärkt Anregungen bei Maillol und dessen tektonischen, formal geschlossenen Gestalten. Sie sind es wohl auch, die den Weg zum eigenen Stil ebnen; allerspätestens mit der »Knienden« hat Lehmbruck das Ziel erreicht.
Diese überhöhte Frauenfigur ist in der schönen Haupthalle des Duisburger Museums platziert, wo sie auch der etwas jüngeren Gestalt des »Gestürzten« begegnet. 1914, nach dem erzwungenen Abschied aus Paris, gewinnen solche expressiven bildnerischen Reaktionen auf den Krieg ein großes Gewicht in Lehmbrucks Œuvre. Zu den letzten Skulpturen des Künstlers zählt der eindrucksvolle »Kopf eines Denkers«. Auf dem langen Hals sitzt der völlig überdimensionierte kahle Schädel. Nicht ohne Grund wurde das Bildnis immer wieder als vergeistigtes, verstörendes Selbstporträt gesehen. Lehmbruck schuf es 1918, ein Jahr vor seinem Freitod. Um dieselbe Zeit schreibt er sein Gedicht »Wer ist noch da?« Es klingt nach Resignation – und nach Abschied: »Habt ihr, die soviel Tod bereitet, / Habt ihr nicht auch den Tod / Für mich?« //
Alle Jubiläumsausstellungen bis 29. Januar 2006. Tel.: 0203/283-26 30. www.lehmbruckmuseum.de