TEXT: ANDREAS WILINK
20 Männer im Hafen von Marseille verlieren ihre Stellung. Der Vertreter der Gewerkschaft CGT kann nichts tun. Er hat – dies sei am gerechtesten – das Losverfahren gewählt. Einen Zettel mit dem eigenen Namen hat er auch in die Urne gelegt. Michel zieht sich selbst. Der Frühpensionär sitzt jetzt daheim und pult Schalentiere fürs Essen oder repariert die Pergola im Garten des Sohnes. Ihm und seiner Frau Marie-Claire, die als Altenbetreuerin unterwegs ist, geht es – mit Rente und Abfindung – nicht schlecht. Vom eigenen Haus aus können sie sogar das Meer sehen, mit den Enkeln geht’s sonntags zum Strand, die Familie mit den beiden erwachsenen Kindern, Freunde und Verwandte bilden eine intakte Gemeinschaft. Die Ideale der Arbeiterbewegung, von politischem Kampf und Klassenbewusstsein, für die Michel gern den Sozialisten Jaurès zitiert, existieren noch, obwohl man mit der Zeit etwas bequem und bourgeois geworden sei, wie das Ehepaar fürchtet.
Bei einem Fest zum Hochzeitstag schenken die Gäste Geld und Flugtickets nach Tansania, und alle singen Pascal Danels populäres Chanson »Les Neiges du Kilimandjaro«. Doch dann kommt es anders. Ein nächtlicher Überfall, als Michel und Marie-Claire, ihre Schwester und Schwager Karten spielen. 5.000 Euro Reisegeld und Kreditkarten werden geraubt. Die Tat hinterlässt Spuren, weniger bei Michels ausgerenkter Schulter, als durch die Demütigung, wehrlos ausgeliefert gewesen zu sein. Die Psyche nahm Schaden. Per Zufall entdeckt Michel den Täter – ein junger, ebenfalls gekündigter Kollege. Mit der gestohlenen Summe hat Christophe Brunet Schulden bezahlt und bringt seine jüngeren Brüder Martin und Jules durch – ihre Mutter hat sich aus dem Staub gemacht, Väter waren eh nie da.
Der Wunsch nach einer gerechten Strafe weicht bei Michel und Marie-Claire langsam der Erkenntnis von Brunets Zwangslange, der Folgewirkungen und dem Bewusstsein für Verantwortung, Solidarität und praktische Hilfe. Man könnte es christliche Ethik nennen. Der Film ist narrativ angelegte Gesellschaftstheorie, wie sie sonst nur der Engländer Mike Leigh dreht, und dabei leicht, heiter, lebensecht und musikalisch wie einst bei Jacques Démy. Sozial sehr genau, wird nichts beschönigt und geglättet. Der Konflikt zwischen Michel und Christophe bleibt ungelöst. Michels und Marie-Claires eigene Kinder reagieren unverständig, als ihre Eltern plötzlich zwei fremde Buben zu sich holen. Der Zuschauer aber spürt eine das Denken anregende Emotionalität. Es ist, als würde der Marseillaise eine weitere Strophe hinzugefügt: bescheiden, konkret und mutig.
»Der Schnee am Kilimandscharo«; Regie: Robert Guédiguian; Darsteller: Ariane Ascaride, Gérard Meylan, Jean-Pierre Darroussin; F 2012; 107 Min.; Start: 15. März 2012.