TEXT: URSULA KLEEFISCH-JOBST
»Preisgünstige Eigentumswohnung in ruhiger Lage, zentrumsnah. Unterschiedliche Wohneinheiten für jede Lebenssituation. Wohnungen im Erdgeschoss mit eigenem Garten, Wohnungen in den Obergeschossen mit großer Wohnterrasse, vor Blicken geschützt. Südsonne, raumhohe Fenster, ausreichend Garagenstellplätze.«
Eine solche Anzeige würde jeden Wohnungssuchenden elektrisieren, aber ganz sicher würde niemand mit dieser Anzeige einen Wohnkomplex aus den 1960er Jahren verbinden. Allzu verfestigt sind die Vorurteile, dass in diesem Jahrzehnt ausschließlich vom Wirtschaftsfunktionalismus diktierte menschenverachtende »Käfighaltung« gebaut worden sei. Natürlich gab es und gibt es immer noch unzählige diese banalen Wohnkisten, deren Raumangebot noch unter dem Durchschnitt der Vorkriegszeit liegt. Aber jenes gescholtene Jahrzehnt kannte auch sehr ambitionierte Versuche, zeitgemäßen, komfortablen Wohnraum für unterschiedliche Lebensbedürfnisse zu schaffen. Dabei wurden die Planungen bestimmt von dem Wunsch, kompakte Wohnanlagen zu schaffen, um die wertvolle Ressource Bauland zu schonen und möglichst umfangreiche Grünflächen für die Naherholung zu erhalten. Forderungen, wie sie heute nicht aktueller sein könnten.
Ein solches Wohnexperiment verkörpern die Marler Wohnhügelhäuser. Die Stadt im nördlichen Ruhrgebiet hatte sich bereits mit dem ab 1960 begonnenen Rathauskomplex nach einem Entwurf des Niederländers Jacob Barkema als experimentierfreudig und der modernen Architektur aufgeschlossen gezeigt. So ging die neue Marler Baugesellschaft 1963 das Wagnis ein, das erste Wohnhügelhaus in Europa zu realisieren.
Gleichsam wie ein Berg sind in vier Geschossen die Wohneinheiten übereinander gestapelt. Im Erdgeschoss beträgt die Gebäudetiefe fast 42 Meter, während sie im dritten Obergeschoss nur noch knapp 10 Meter misst. In die schräge Außenhaut des Gebäudes sind die Terrassen eingeschnitten und so jeweils den neugierigen Blicken der Nachbarn entzogen. Auf engstem Raum wird hier die Privatsphäre gewahrt, und die Bepflanzung der großen Terrassenkübel ermöglicht eine auch am Außenbau sichtbare individuelle Gestaltung jeder einzelnen Wohnung.
Die Architekten Peter Faller, Roland Frey, Hermann Schröder und Claus Schmidt aus Stuttgart hatten bereits 1959 ihre Idee vom Wohnhügelhaus präsentiert. In einer Anlage dieser Art sahen sie die Möglichkeit, die Vorzüge eines Einfamilienhauses mit dem Gebot der höheren Wohndichte zu vereinen. 46 Wohneinheiten, von der Zweizimmer-Wohnung bis zur 137 Quadratmeter großen Fünfzimmerwohnung, beherbergt jedes der insgesamt vier Wohnhügelhäuser in Marl. Mit 800 DM pro Quadratmeter lagen die Herstellungskosten deutlich unter den 1.200 DM für den konventionellen Eigenheimbau.
Diese atypische Wohnarchitektur fand großes Interesse in der nationalen und internationalen Fachpresse, stieß aber in Marl selbst zunächst auf wenig Gegenliebe. »Nur wenige wollen im Hügelhaus wohnen«, titelte die Buersche Zeitung im Herbst 1967. Schwierigkeiten bereiteten den Interessenten vor allem die Dachschrägen und die damit verbundene Möblierung. So ließ die Baugesellschaft vier Musterwohnungen mit Hilfe von Marler Möbelhäusern und der Innenarchitektin Elke Pumpe-Krüger ausstatten – an einem einzigen Oktoberwochenende des Jahres 1967 wurden sie von 20.000 Menschen besichtigt. Das Experiment Wohnhügel wurde ein Erfolg und fand zahlreiche Nachahmungen im In- und Ausland.
Genauso experimentell, gestalterisch sogar noch ambitionierter, aber weniger geglückt ist das Terrassenhaus Girondelle in Bochum. Mit dem Bau der Ruhr-Universität Anfang der 1960er Jahre und der Ansiedlung der Opel-Werke stieg der Bedarf an Wohnungen in der bis dahin von der Montanindustrie geprägten Stadt. Auf dem teilweise noch bewaldeten Gelände zwischen der Universität und dem Ortsteil Wiemelshausen wurde ein ausgedehntes Siedlungsgebiet für 25.000 Bewohner ausgewiesen. Ziel war es auch hier, die Wohnbebauung zu konzentrieren, um so möglichst große, zusammenhängende Naherholungsgebiete zu gewinnen.
Das Terrassenhaus Girondelle, entworfen von dem Nürnberger Architekten Albin Hennig, erhebt sich auf einem der drei Hügel, die das Gelände kennzeichnen. Der längsrechteckige, bis zu acht Geschosse hohe Baukörper nimmt die gesamte Länge der Hügelkuppe ein. So konnten die Wohnungen mit ihren Balkonen nach Osten und Westen ausgerichtet werden. Trotz der enormen Baumasse von 211 Wohneinheiten, die von der Sechszimmer-Wohnung bis zum Anderthalb-Zimmer-Apartment reichen, erscheint die Gesamtanlage nicht sehr massiv. Das bewirken die vielfältigen versetzten Rücksprünge, die den Gebäudequerschnitt – wie im Wohnhügelhaus – nach oben hin verjüngen. Zur Auflockerung des Erscheinungsbildes tragen auch die farbigen Paneelen um die Fenster bei sowie die plastisch ausgeformten, auf kompakten Basen ruhenden Pflanzkübel. Entstanden ist ein skulpturaler Baukörper, der sich wohltuend von den monotonen Wohnkisten in seiner Nachbarschaft absetzt. Leider beeinträchtigt der verwahrloste Zustand der Girondelle erheblich ihr heutiges Erscheinungsbild.
Zudem laboriert die Anlage bis heute an einem Planungsproblem, auf das die Betonkübel entlang der Terrassen hinweisen. Sie sollten, wie im Marler Wohnhügel, den Bewohnern einen privaten Grünraum ermöglichen, sind aber oft nur spärlich bepflanzt und teilweise durch Metallgitter ersetzt worden. Ein verzweifelter Versuch der Bewohner, mehr Licht in ihre Wohnungen zu lassen. Denn durch die Längsausrichtung der Girondelle sind die kleineren Wohnungen nur von einer Seite belichtet und damit auch schlecht belüftet. Im inneren, dunklen Kern des Komplexes liegen nicht nur die Flure, sondern zum Teil auch Küchen und Bäder. Auf einigen Ebene sind die Wohnungen allerdings durch Laubengänge erschlossen.
Bei der dringend gebotenen Sanierung der Girondelle müsste man hier bessere Lösungen entwickeln. So könnte die ursprüngliche Idee von Wohnhügelhaus und Girondelle, unterschiedliche Wohnungsgrundrisse in einem Komplex zu vereinen sowie jedem Bewohner seinen ganz privaten Außenraum zu ermöglichen, doch noch zu einer Erfolgsgeschichte werden.
Architektur im Aufbruch – die 60er Jahre. Ausstellung des M:AI Museum für Architektur und Ingenieurkunst in der Duisburger Liebfrauenkirche, König-Heinrich-Platz/ Landfermannstraße, 24.8.–18.10.2009, 11–20 Uhr. www.mai-nrw.de. – Dr. Ursula Kleefisch-Jobst ist Geschäftsführende Kuratorin des M:AI.